Psalm 137,1 ein Grund zum Weinen

Dass diese Leute zu den Strömen Babels gekommen waren, das war nicht freiwillig.

Die Babylonier hatten Jerusalem besetzt und restlos zerstört, und sie hatten die führenden Schichten des Volkes an diese Ströme Babels zwangsverschleppt.

Die Menschen, die damals dort an den Strömen Babels gesessen hatten, die hatten alles verloren: Ihr Vieh, ihre Weinberge, ihre Häuser, und wenn sie Gold besessen hatten, dann werden die Babylonier ihnen das kaum gelassen haben. Die Babylonier hatten Jerusalem erobert, um Beute zu machen. Nicht, um die Bewohner mit all ihrem Reichtum abziehen zu lassen.

Aber wenn der Autor über die Zeit damals an den Strömen Babels schreibt, dann kommt all das, was er verloren hat, nicht vor.

Auch, dass diese Menschen ja ihre Heimat verloren hatten, kommt in diesem Psalm nicht vor.

Die haben damals an den Strömen von Babel nicht geweint, weil sie arm wie die Kirchenmäuse in der Verbannung ankamen und nun alles ganz von vorn anfangen mussten.

Dieser Psalm ist völlig frei von Egoismus.

Alles, worüber die Gläubigen heutzutage klagen, wenn sie klagen, das fehlt in diesem Psalm.

Alle ideellen und materiellen Verluste werden nicht erwähnt. Und die dürften außerordentlich gewesen sein.

Was sie verloren hatten, und worüber sie weinen, ist, dass sie die Begegnung mit Gott verloren hatten.

Am äußersten Meer

Nun ist Gott bekanntlich überall. Auch in Babylon.

Was die Verschleppten folglich nicht verloren hatten:

  • Sie konnten nach wie vor beten.
  • Sie konnten nach wie vor Bibel lesen.
  • Sie konnten nach wie vor Predigten hören und Bibelauslegungen.
  • Sie hätten auch weiterhin fromme Lieder singen können – in den nächsten Versen werden wir sehen, dass man schon erkannt hatte, dass das zwar ging, aber keinen Sinn machte.

Alles das, was formal eine Gemeinde ausmacht, konnten die Verschleppten immer noch tun.

Und Gott würde eine Reihe ihrer Gebete sicher auch erhören. Gott war ja nicht so.

Aber Gott treffen, persönlich, unmittelbar, und sich in seiner Nähe aufhalten, das konnten die Verschleppten nicht mehr.

Und das ist halt der Unterschied.

Heute auch nicht.

Sie haben natürlich recht, lieber Leser, dass wir das Problem heute in den Gemeinden genauso haben:

Man macht in der Gemeinde alles das, was formal eine Gemeinde ausmacht. Je nach Ausrichtung der Gemeinde sehr ordentlich und korrekt oder mit viel Gefühl.

Aber Gott ist nicht persönlich anwesend, wie er im Tempel anwesend war. Man würde es ja merken, wenn das mächtigste Wesen der Welt mit seiner ganzen Macht und Herrlichkeit den Raum betritt.

Die Menschen damals, die kannten den Unterschied und konnten ihn erkennen. Denn sie hatten die Erfahrung gemacht, dass das im Tempel eben ganz anders war als ihre alltäglichen Begegnungen mit Gott.

Die Christen heute haben auf breiter Front niemals die Erfahrung gemacht, Gott persönlich und hautnah zu begegnen. Folglich vermissen sie Gottes Erscheinen auch nicht. Ergriffenheit macht sich im Gottesdienst schon breit, wenn der Prediger genau das sagt, was ich schon immer gedacht habe, oder wenn ich während des Lobpreises von meinen eigenen Gefühlen übermannt werde.

Aber das ist, warum man an den Strömen Babels weinte: Weil es definitiv einen Unterschied gibt zwischen Gottesdienst wegen Gott und Gottesdienst mit Gott.