Das Menschenbild in Johannes 10

Das 10. Kapitel des Johannesevangeliums ist dazu da, ein sehr extremes Menschenbild in die Welt zu setzen.

Der gläubige Mensch wird hier in absolute Abhängigkeit von Gott gesetzt. Der Mensch ist Schaf – das ist so ziemlich das unselbstständigste Tier, das man sich denken kann. Im Gegensatz dazu ist Gott (oder Jesus) der Hirte, also der, der die Verantwortung hat, weil er das Wissen und die Übersicht hat.

Die Verantwortung des Schafes liegt somit vor allem in der Beziehung zum Hirten. Das Schaf muss nicht die Welt verstehen und nicht gegen die Wölfe kämpfen – schon allein deshalb nicht, weil ihm dazu alle Möglichkeiten fehlen. (Dass der Kampf gegen das Böse mit menschlichen Mitteln nicht zu gewinnen ist, sollten die letzten Jahrtausende der Weltgeschichte eigentlich ausreichend bewiesen haben.)

Alles hängt ab vom Willen Gottes: Was will Gott für seine Schafe? Wer will Gott für seine Schafe sein? Der Wille der Schafe ist unerheblich, denn die Schafe können mit ihrem Willen sowieso nichts durchsetzen. Die einzige Möglichkeit, ihren Willen durchzusetzen, ist Gott zu kündigen und nicht mehr Schaf sein zu wollen. Dann sind sie aus dem System raus, aber ob das dann besser ist, sei dahingestellt.

Kapitel 10 stellt dar, dass die Sicherheit der Schafe (oder ihr Lebensglück) von ihrer Beziehung zum Hirten abhängt. Können sie seine Stimme hören, wird es gut. Folgen sie ihm, kann nichts daneben gehen.

Wie zu allen Zeiten, war auch den Juden damals in Jerusalem der Gedanke ein Graus, von Gott abhängig zu sein. Gott ist ein nettes Accessoire für Leben und ein Helfer in der Not, aber ansonsten waren wir froh, als wir 18 wurden, denn damit wurden wir unabhängig.

Inwieweit wir nun doch – freiwillig – abhängig werden von Gott, hängt von unserem Gottesbild ab. Darum wird in diesem Kapitel nicht nur ein Menschenbild entworfen, sondern es wird auch das Wesen Gottes beschrieben. Der Hirte, der ein Eigentum zu behüten hat, der sich anders benimmt als der lohnabhängige Treiber, und der stärker ist als alle anderen.

Und dann dreht Jesus dieses Abhängigkeitsverhältnis in den Versen 25-27 wieder um. Als die Juden nämlich verlangen, dass er ihnen sagen soll, ob er jetzt der Messias ist, sagt er ihnen: „Schaut Euch die Werke an, die ich tue; hört zu, was ich sage, und dann denkt selber nach.“ In unserer Wahl, ob wir Jesus als Hirten wählen wollen oder nicht, sind wir nämlich völlig unabhängig.

Aber wir hätten einen Grund, Jesus als den Hirten zu wählen, und den wiederholt Jesus in Kapitel 10 immer wieder: Er ist der Stärkste. Man kann ihm noch nicht einmal das Leben nehmen. Sondern er lässt sein Leben, und hinterher nimmt er es wieder.

Am Ende des Kapitels definiert Jesus die Menschheit als von Gott besucht. Das ist dann der Moment, wo die Juden ihn steinigen wollen. Und das, obwohl ja gerade ihr Volk in der Vergangenheit das Volk war, das von Gott besucht worden war, in dessen Mitte Gott wohnen wollte.

Aber soviel Gott ist einfach zuviel.