Matthäus 20,29-34 die ultimative Heilung

In diesem Artikel geht es um die Frage, warum die Heilung der zwei Blinden in Jericho die letzte Heilung ist, die Matthäus berichtet, warum Jesus so berührt ist und anlässlich der Heilung nichts, aber auch gar nichts sagt.

Matthäus erzählt nach dieser Heilung keine weitere mehr, weil diese Heilung die Größte ist.

Die Perfekte.

Sie ist so perfekt, dass Jesus zum Abschluss gar nicht mehr sagt „dein Glaube hat dir geholfen“ oder so etwas.

Jesus sagt am Ende dieser Heilung gar nichts.

Es gibt nichts mehr zu sagen. Diese Heilung ist die Krönung aller Heilungen, sie ist die Top One. Danach kann nichts mehr kommen, denn Matthäus hat in seinem Evangelium einen Spannungsbogen, und was Heilungen angeht, ist der Spannungsbogen mit dieser Heilung durch. Die Spitze ist erreicht, der Olymp bestiegen, das Thema ist erledigt.

(Rein chronologisch wissen wir natürlich, dass hinterher noch Heilungen stattgefunden haben. Zumindest das Ohr des Malchus war ganz bestimmt zeitlich später. Aber Matthäus richtet sich wenig nach der Chronologie. Er schreibt Literatur, keine Dokumentation.)

Die Geschichte mit der Volksmenge

Man könnte meinen, die beiden Blinden seien die Hauptpersonen dieser Geschichte.

Aber die Geschichte beginnt mit der Volksmenge.

Die Volksmenge wird ausdrücklich und als erste erwähnt, obwohl man doch eigentlich sagen könnte, dass die Heilung der zwei Blinden völlig unabhängig von der Volksmenge geschehen könnte. Die Volksmenge ist für die Heilung dieser Blinden doch offensichtlich unerheblich. Die Leute tragen nichts dazu bei.

Um zu verstehen, warum die Volksmenge so ausdrücklich erwähnt wird, müssen wir das Verhalten der Volksmenge verstehen. Dass sie nämlich die beiden Blinden zum Schweigen bringen will.

Der Grund für dieses Verhalten der Volksmenge wird nicht erwähnt. Matthäus geht offensichtlich davon aus, dass der Grund seinen Zuhörern ohnehin klar ist. Wenn Matthäus das für so sonnenklar hält, müssen wir hier den naheliegendsten Grund hernehmen, nicht irgendwelche abwegigen Spekulationen.

Mutmaßungen über das Verhalten der Volksmenge

Es sind in den Jahrhunderten viele Mutmaßungen geäußert worden, warum die Volksmenge so reagierte:Matthäus 20,29

  • Mutmaßung: Es handelte sich um einen feierlichen Zug zum Passahfest nach Jerusalem, in ernsthafter und ehrfürchtiger Atmosphäre aufgrund der Dinge, die man in Jerusalem erwartete. Und so einen Zug stört man nicht durch Geschrei, und irgendwelche Sünder (denn es muss ja einen Grund haben, dass die blind sind) machen das schon gar nicht.

    • Entgegnung: Aber der Text sagt nichts von einem feierlichen Zug. Eine gewisse Ausgelassenheit wird uns beim Annähern an Jerusalem gemeldet, hat aber auch damit zu tun, dass Jesus den Esel bestellt. Hier in Jericho sind es offenbar nur Festpilger, die noch 25 km Fußweg vor sich haben.

  • Mutmaßung: Die Volksmenge hielt Jesus bereits für den Messias, für den kommenden König, und man belästigt einen zukünftigen König nicht mit Geschrei vom Wegesrand. Der Berufene war auf dem Wege zum größten Ereignis seines Lebens (und wohl auch der Gegenwart Israels), da mussten die persönlichen Wünsche irgendwelcher Dahergelaufener zurückstehen. Der Papst tätschelt schon einmal den Kopf eines Kindes, aber nicht, wenn er gerade wichtige, heilige Dinge von epochaler Bedeutung macht.

    • Entgegnung: Dass diese Volksmenge derart hohe Gedanken hatte, ist reine Spekulation und an sich unwahrscheinlich. Natürlich lag manchem der Verdacht nahe, dass dieser Jesus der angekündigte König war, aber man stellte sich seine Machtübernahme doch eher wie eine Revolution vor. Jesus hatte bis zu diesem Moment so oft angehalten und die unmöglichsten Krankheiten und Behinderungen geheilt und war sogar zu Zachäus zum Essen gegangen, so dass man jetzt nicht annehmen konnte, dass die Würde seines hohen Amtes ihn nun plötzlich an Bedürftigen vorbeilaufen lässt.

  • Mutmaßung: Man hatte es eilig, nach Jerusalem zu kommen und zu sehen, wie Jesus den Thron Davids übernahm. Jede Störung war eine unerwünschte Verzögerung.

    • Entgegnung: Wenn man noch 20 km zu laufen hat, kommt es auf eine einminütige Unterbrechung wohl nicht an.

Der naheliegende Grund

Nein, der nächstliegende Grund, warum die Volksmenge sich das Geschrei nicht bieten lassen wollte, war wohl ein anderer:

Die Bettler benutzten den Namen des Messias, des großen Königs, dafür, um auf diesem Wege mehr Almosen zu erhalten. Sie dachten, wenn sie Jesus Honig ums Maul schmieren, wird er nicht umhin können, ihnen mehr Geld zu geben. Schließlich kann der Sohn Davids es sich nicht leisten, sie mit ein paar Cent abzuspeisen.

Diese beiden wollten offensichtlich den königlichen Namen zu ihrem privaten Vorteil nutzen. So wie manche Bettler einer Seniorin „junge Frau“ hinterherrufen.

Natürlich wissen wir, weil wir die Geschichte schon kennen, dass die Blinden etwas ganz anderes wollten als nur Almosen. Aber solche hohen Gedanken machte sich das Volk nicht.

Und klar, man hatte schon von den vielen Heilungen gehört. Aber da waren Menschen zu Jesus gebracht worden, oder sie waren ihm selber gegenüber getreten. Es ist kein einziges Beispiel bekannt, wo jemand über die ganze Straße geschrien hat und daraufhin geheilt wurde.

Die Begegnung zwischen Jesus und den beiden Blinden war zufällig. Die hatten Jesus nicht gesucht wie andere, die geheilt werden wollten.

Es sah also so aus, als würden diese Bettler den Namen des Sohnes Davids missbrauchen, ohne ihn mit Leben zu füllen; ohne wirklich daran zu glauben, dass dieser der Sohn Davids sei. Im Gegensatz zu der Volksmenge, die ja mit Jesus nach Jerusalem zog, weil man durchaus erwartete, dass dort das Entscheidende passieren würde.

Und darum hat die Volksmenge darauf gedrungen, dass die Bettler ruhig sind. Weil man nicht „Sohn Davids“ sagt, wenn man bloß auf mehr Geld hofft.

Wünsch dir was

Man sollte ja meinen, dass klar ist, was zwei Blinde wollen, die nach Jesus rufen.

Jesus ist klug genug, die Blinden explizit zu fragen, was er für sie tun soll. Denn, wie gesagt, die Begegnung ist zufällig.

Jesus hatte schon mit Leuten zu tun, die ihren Vater begraben wollten und mit solchen, die wollten, dass er Recht spreche über eine Erbteilung. Er hatte mit Leuten zu tun gehabt, die teures Parfüm verkaufen und das Geld den Armen geben wollten. Und mit solchen, die seine schlechte Behandlung durch die Obrigkeit verhindern wollten. Der war schon aus einer Gegend weggeschickt worden, wo er den in den Grabhöhlen Lebenden wieder in Ordnung gebracht hatte.

Die Wünsche und Erwartungen, die an Jesus gerichtet wurden, waren also keineswegs vorhersehbar. Wie gesagt, die Volksmenge dachte, die Blinden wollten nur ein höheres Almosen herausschinden.

Das Verhalten der Blinden

Die Blinden machen jetzt zweierlei:

1) Die Blinden behandeln Jesus von vorne bis hinten als den versprochenen König, als den Sohn Davids. Sie rufen ihn als solchen, und sie wünschen von ihm das, was ihnen laut AT nur der Sohn Davids geben kann.

Denn das wird im AT mit der Ankündigung des neuen Reiches und des neuen Königs immer wieder verknüpft: Dass die Blinden sehen werden.

Da können besonders kluge Leute lange behaupten, das sei doch eine Metapher und sei so gemeint, dass die, die Gott bisher nicht erkennen konnten, Gott nun erkennen können.

Ja, das wissen wir heute. Die damals nahmen das wörtlich.

Und die Blinden kannten diese Stellen des AT und wendeten sie an. Sie nahmen das ernst, was in der Bibel stand: Wenn der Sohn Davids kommt, werden die Blinden sehen. Wenn also Jesus der Sohn Davids ist, dann …

Das ist natürlich hoch gepokert.

Es gibt dann Leute, die sagen: Die Blinden hatten ja nichts zu verlieren. Aber doch: Wenn sie Jesus nur um 100.000 $ für jeden von ihnen gebeten hätten, damit sie sich einen Blindenführer, einen Blindenhund und eine Braillezeile unterm Computer leisten können und für den Rest ihres Lebens genug zu essen haben, dann wäre das ja eher zu erfüllen gewesen als die Heilung einer Erblindung.

Und wenn das mit der Heilung nicht geklappt hätte, dann hätten die Blinden sich furchtbar geärgert, dass sie nicht um die 100.000 $ gebeten hätten, dann hätte sie wenigstens das gehabt. So haben sie nun eine nicht erfolgte Heilung und sonst gar nichts.

Die Blinden erbaten aber von Jesus nichts, was sie auch von jemand anderem hätten bekommen können, sondern sie erbaten etwas, das sie nur vom Sohn Davids bekommen konnten. Sie behandelten Jesus als König.

2) Die Blinden behandelten Jesus nicht nach seinen Möglichkeiten. Es gab gelegentlich die Frage, ob Jesus dieses oder jenes kann. Der Vater des mondsüchtigen Jungen hatte das Problem, dass er sich nicht so ganz sicher war, ob Jesus das wirklich konnte, was der Vater gerne gehabt hätte.

Die Blinden fragten aber nicht „was kann Jesus“, sondern „wer ist Jesus“.

Wenn jemand Dolmetscher für Spanisch ist, dann weiß man, dass der Spanisch kann. Das muss man dann nicht mehr fragen. Das ist selbstverständlicher Bestandteil dieses Menschen.

Wenn Herr Scholz Bundeskanzler ist, dann gibt es gewisse Dinge, von denen man weiß, dass er die kann. Er hat als Bundeskanzler die Macht dazu. Man muss nicht fragen, ob Herr Scholz eine Kabinettssitzung einberufen kann oder den amerikanischen Präsidenten anrufen kann.

Wenn Jesus der Sohn Davids ist, dann ist mit dieser Tatsache jede Menge anderes untrennbar verbunden. Dann ist das neue Reich da, und werden die Blinden wieder sehen.

Das Reich Gottes beinhaltet nicht die Option, dass die Blinden möglicherweise und unter bestimmten Umständen wieder sehen werden. Wo das Reich Gottes ist, werden sie sehen. Die Frage ist nicht, ob es möglich ist, sondern ob man es verhindern kann.

Und wenn Jesus König ist, wenn Jesus als König anerkannt ist, dann kann man es nicht mehr verhindern. Dann gibt es auch keine Bedingungen mehr, die eintreffen müssen, damit die Blinden wieder sehen. Wo Jesus als König anerkannt wird, ist das Wieder-Sehend-Werden zwangsläufig.

Zusammenfassung

Matthäus 20,34Diese Heilung ist die letzte bei Matthäus, weil hier nicht mehr geglaubt wird, dass Jesus etwas kann, sondern dass Jesus etwas ist.

Die Heilung erfolgt nicht, weil Jesus gewisse übernatürliche Fähigkeiten hat, sondern weil Jesus übernatürlich ist.

Die Heilung geschieht nicht, weil jemand sie für möglich hält, sondern weil jemand sie für zwingend hält.

Darum heißt es am Ende auch, dass Jesus „innerlich bewegt“ war. Die Übersetzer, die den Knackpunkt nicht verstanden haben, machen dann daraus, dass Jesus Mitleid mit den Blinden hatte.

Solche Stellen gibt es zwar auch, dass Jesus aus Mitleid innerlich bewegt wird. Aber hier dürfte die innere Bewegung darauf zurückzuführen sein, dass auf einer bestimmten Ebene das Ziel erreicht ist: Jesus wird nicht als König anerkannt, und dann schauen wir mal, was er regierungsmäßig so hinbekommt, sondern Jesus wird als König anerkannt, dem zwangsläufig gewisse Tatsachen folgen.

Die Volksmenge war ja auch bereit, Jesus als König anzuerkennen. Aber was daraus folgen würde, war für sie noch offen. Die Zukunft, die sich aus diesem Status als Davids Sohn ergab, die musste die Volksmenge abwarten. Mal sehen, was der als König so macht.

Jesus sagt hier auch nichts anlässlich oder nach der Heilung. „Euer Glaube hat euch geholfen“ wäre an dieser Stelle vielleicht etwas dünn gewesen. Denn hier wurde der Gipfel des Glaubens erreicht. Hier wurde nicht auf Jesu Fähigkeiten gesetzt, sondern auf sein Sein.

Anwendung

Der Unterschied, um den es hier geht, ist also der, ob das Übernatürliche möglich oder zwingend ist.

Hat Jesus ein Reich geschaffen, in dem vieles möglich ist, was anderswo nicht möglich ist, oder hat er ein Reich geschaffen, wo die Resultate zwingend sind.

Beispiele:

  • Kann es sein, dass alles zu meinem Besten dient, oder ist es zwingend in Jesu Sein gebunden? Muss zwangsläufig alles zu meinem Vorteil sein, oder ist das eine Option, die eintreffen kann oder auch nicht?

  • Kann Gott mir helfen, oder ist es zwingend, dass er es tut, weil er der ist, der er ist? Muss ich auf Gottes Hilfe hoffen, und dann kommt sie möglicherweise, oder kann ich mit Gottes Hilfe rechnen, weil sie nicht „nicht kommen“ kann?

  • Wenn Paulus in Römer 8 schreibt, dass niemand uns von der Liebe Gottes trennen kann, dann stellt er das nicht als eine Möglichkeit dar, sondern als zwingende Tatsache. Wenn Jesus auferstanden ist, ist das nicht mehr verhandelbar. Und man beachte: Paulus sagt nicht, dass uns niemand von Gott trennen kann. Sondern dass niemand uns von der Liebe Gottes trennen kann.

  • Wenn in der Bergpredigt beschrieben wird, dass und warum man sich keine Sorgen machen muss, dann wird das Sorgen Gottes nicht als eine Möglichkeit beschrieben, die eventuell und unter gewissen Umständen eintreffen kann. Sondern wenn das Böse besiegt ist, dann ist das fortwährende Gute zwangsläufig.

Für die Volksmenge war Jesus einer, der vielleicht die Position des Königs einnehmen wird. Für die Blinden war er wesensmäßig der König. Darum sah die Volksmenge durchaus Möglichkeiten, die Blinden sahen zwingende Zusammenhänge.

Schlusswort

Matthäus will beschreiben, dass Jesus dieser König ist. Darum fängt das Matthäusevangelium mit der Liste der Könige an und zeigt die Abstammung Jesu von den Königen. Der erste Vers heißt Matthäus 1,1

1Buch des Ursprungs Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.

Dieses Ziel von Matthäus ist auf der Ebene der Heilungen nun erreicht. Jesus ist der Sohn Davids, die Blinden haben es mit allen Konsequenzen verstanden.

Das Übernatürliche hängt jetzt nicht mehr an der Frage, ob Jesus will. Das Übernatürliche hängt jetzt an der Frage, wer Jesus ist.

Für die Volksmenge war Jesus jemand, der möglicherweise etwas kann. Wenn er will.

Für die Blinden war Jesus jemand, der etwas ist und dem deshalb gewisse Dinge unabdingbar nachfolgen.

Wer ist Jesus für Sie?