Anfechtung – der große christliche Mythos

Wenn Sie diesen Artikel lesen, ist es Ihre Pflicht, ernst dreinzuschauen.

Wie auf einer Trauerfeier.

Schließlich geht es um Anfechtung.

Ein mit Todesgefahr verwobener Begriff, der uns die ganze Schwere des christlichen Lebens spüren lässt.

Nur blöd, dass das Wort in der gesamten Elberfelder Bibel überhaupt nicht vorkommt.

Von erster Mose bis zur Offenbarung: Null Treffer.

Auch nicht in abgewandelter Form, z.B. „anfechten“ oder „angefochten“.

Das wäre schon einmal der erste Hinweis, dass wir hier einem Mythos auf der Spur sind.Anfechtung

Evangeliumsrundfunk

Auf das Thema gekommen bin ich, weil ich alle meine alten Unterlagen durchsehe und dabei wegwerfe, was sich überlebt hat, und einscanne und anschließend wegwerfe, was ich behalten will.

Und da gab es unter dem Buchstaben „A“ auch einiges über Anfechtung, u.a. einen Beitrag aus dem Glaubenslexikon des Evangeliumsrundfunk, wo gleich im ersten Absatz stand: „Nur der Glaubende wird angefochten!“

Wenn man so etwas liest, kann man sich den Rest sparen. Es wird vermutlich nicht besser.

Denn natürlich kann auch der Ungläubige in seinem Unglauben angefochten werden und dabei auf die Idee kommen, dass es vielleicht doch einen Gott gibt und dass Jesus möglicherweise Gottes Sohn oder der Erlöser ist. Und wenn der Ungläubige der Anfechtung seines Unglaubens erliegt, wird er gläubig.

Was das ist

Die christlichen Begriffe „Anfechtung“ oder „Versuchung“ oder „Prüfung“ stehen für etwas, das jedem Menschen tausendmal im Leben passiert und überhaupt nichts Besonderes ist.

Wir haben eine Entscheidung getroffen.

Und dann treffen Umstände ein, die uns diese Entscheidung überdenken lassen.

Wobei es in der Regel so ist, dass wir eine Entscheidung rational getroffen haben. Also bewusst und mit ein bisschen Nachdenken. Hat einfach damit zu tun, dass eine unbewusst getroffene Entscheidung, von der wir folglich gar nichts wissen, schlecht angefochten werden kann.

Wir haben also willentlich eine Entscheidung getroffen, und jetzt begegnet uns etwas, das uns an unserer Entscheidung zweifeln lässt.

  • Ich bin Pazifist und Mitglied bei den Grünen oder bei der Linken. Ich war immer für die Abschaffung der Bundeswehr und für das Verbannen der amerikanischen Streitkräfte aus Europa. Und dann rückt Putin nach Westen vor. Tja, da muss ich mir dann doch noch einmal überlegen, ob ich bei meiner Entscheidung bleibe oder ob ich irgendwas an meiner Haltung ändern muss.
  • Ich habe meinem Ehepartner ewige Treue geschworen, und dann begegne ich dem Märchenprinzen oder der Prinzessin. Dadurch wird meine damalige Entscheidung angefochten, und ich muss mir überlegen, ob ich dabei bleibe oder der Märchenfigur folge.
  • Ich habe mich fürs Abnehmen entschieden, und dann begegnet mir eine Sahnetorte. Damit komme ich in die Versuchung, meine Entscheidung über den Haufen zu werfen.
  • Ich habe einen Urlaub auf den Golan-Höhen gebucht, und kurz vor der Abreise kommen mir Zweifel, ob so ein Urlaub in Sichtweite syrischer Raketen tatsächlich die richtige Entscheidung war. Mein Beschluss wird angefochten, und ich komme in die Versuchung, die Reise abzusagen.
  • Ich habe mich für ein Netflix-Abo entschieden, und jeden Monat, wenn die Rechnung kommt, frage ich mich, ob die Entscheidung wirklich richtig war. Ich komme in die Versuchung, das Abo zu kündigen, und mein Wille für Netflix wird angefochten.

Wir sehen also: Jede Entscheidung, die wir im Leben treffen, kann angefochten werden.

Jede Entscheidung, die wir treffen, trägt die Gefahr in sich, dass wir von dieser Entscheidung doch wieder zurücktreten. Oder dass wir die Entscheidung zumindest auf den Prüfstand stellen.

Die Größe der Entscheidung

Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Entscheidung umso häufiger angefochten wird, je extremer oder je weitreichender sie ist.

Meine Entscheidung für Netflix ist nicht sehr weitreichend und steht eigentlich nur im Gegensatz zu meinem Bankkonto. Aber von der Gesellschaft habe ich keinen Widerstand zu erwarten, denn ich verhalte mich stromlinienförmig zum Zeitgeist. Es kann höchstens sein, dass Disney oder Sky meine Entscheidung in Frage stellen.

Eine Entscheidung für Gott ist genau das Gegenteil von einer Entscheidung für Netflix: Die Entscheidung für Gott ist sehr extrem, und sie hat weitreichende Folgen für mein Leben. Ja, sie hat sogar Einfluss auf unbekannte Sphären des Universums, sie ist also wirklich weitreichend, weil sie bis in den Himmel reicht und bis vor die Haustür des Teufels.

Während meine Entscheidung für Netflix nur mein Bankkonto und mein Abendprogramm beeinflusst, beeinflusst die Entscheidung für Gott letztlich jeden Bereich meines Lebens.

angefochtenWährend die Entscheidung für Abnehmen nur mein Essen und meine Bewegung beeinflusst, aber nicht meine Freundlichkeit gegenüber den Kollegen und nicht meinen Umgang mit dem Geld, so reicht der Einfluss meiner Entscheidung für Gott bis in den Bereich von Leben und Tod, von Sinn oder sinnlos.

Meine Entscheidung für Gott ist absolut und exklusiv. Neben Netflix kann ich mich auch noch für Disney und Sky entscheiden, neben Gott kann ich mich für nichts zweites entscheiden.

Eine exklusive Entscheidung wird aber immer mehr in Zweifel gezogen als eine, wo ich keinerlei Verzicht eingehen muss. Eine Entscheidung, die mich im Grunde genommen nichts kostet, wird kaum angegriffen werden. Aber eine Entscheidung, die unbeschreiblich teuer ist, wird man öfter zu überdenken haben.

Eine extreme Entscheidung wie die für Gott wird immer stärker angegriffen werden als eine durchschnittliche Entscheidung wie die für ein silbernes Auto.

Und wenn ich jetzt eine extreme exklusive absolute Entscheidung treffe, bei der es um alles oder Nichts geht, um Leben oder Tod – ist doch logisch, dass so eine Entscheidung ständig irgendwo aneckt, fortwährend kritisiert und von allen Seiten in Frage gestellt wird.

Fazit

Der bedeutungsschwere, trübe und mit viel Hysterie umkränzte Begriff der Anfechtung wird in christlichen Kreisen für etwas benutzt, was eigentlich ein völlig normaler Vorgang ist und zu den Entscheidungen der Menschen zwingend dazugehört.

Je umfänglicher und je spezieller eine Entscheidung ist, desto mehr wird sie durch andere Menschen oder äußere Umstände in Frage gestellt werden.

Da die Entscheidung für Gott so ziemlich das Maximum an Umfang und Exklusivität einer möglichen Entscheidung beinhaltet, ist es nur logisch, dass diese Entscheidung außergewöhnlich häufig angezweifelt und bekämpft wird.

Dass es eine spezielle und extrem schwerwiegende Anfechtung gibt, mit der nur Christen konfrontiert werden, ist einfach nur ein Mythos, mit dem die Gläubigen ihr schlecht gelauntes Leben rechtfertigen wollen.