Die Bibel und Herr Müller

Man kann ja froh sein, dass ich zuerst Gott kennen gelernt habe und danach die Bibel. Andersherum wäre es vermutlich nichts geworden.

Die Bibel ist vielleicht nicht voller Widersprüche, aber sie ist voller Ungereimtheiten. Und die Ungereimtheiten werden mit den Jahren nicht weniger.

Denn je mehr man sich in die Einzelheiten und Zusammenhänge der Bibel einliest, auf umso mehr nicht passendes stößt man.

Historische Wahrheit

Die Bücher der Chronik beginnen mit den letzten Amtshandlungen des König Saul und enden mit dem Erlass des persischen Königs Kyrus. Da der Erlass des Kyrus im Jahr 538 v.Chr. erlassen wurde, können die Chronikbücher also frühestens 538 geschrieben worden sein. Da schreibt also 538 jemand die Dinge auf, die im Jahr 1000 geschehen sind. Das ist 462 Jahre her. Das wäre so, wenn unsereins Vorgänge veröffentlichen würde, welche im Jahr 1560 geschehen sind. Und das zu einer Zeit, als es keinen Buchdruck gab und keinerlei historische Forschung.

Da braucht man sich über den Wahrheitsgehalt dieser Erzählungen doch keine Illusionen zu machen. Selbst wenn der Autor der Chroniken irgendwelche alten Schriften als Quellen gehabt hat, von denen man auch nicht weiß, wer die wie oft abgeschrieben hat und wie zeitnah diese verfasst worden waren.

Gar nicht zu reden von den Psalmen, über denen „ein Psalm Davids“ drübersteht, aber dann spricht der Psalm über Dinge, die es zur Zeit Davids noch gar nicht gab.

Seitdem es Archäologie gibt, ist auch bekannt, dass das, was in der Bibel über den König Omri von Israel steht, und die Tatsachen, die man anderswo über den König Omri erfahren kann, nicht sehr viel miteinander zu tun haben.

Erschwerend kam hinzu, dass in den achtziger Jahren in den Gemeinden noch lautstark behauptet wurde, die Bibel sei ein biologisches und historisches Sachbuch und in ihren biologischen und historischen Aussagen darum fehlerfrei. Das merkt aber natürlich ein blinder mit dem Krückstock beim ersten Lesen, dass es da wohl eine gewisse Diskrepanz gibt.

Und während es mich ja sonst nicht stören würde, wenn in der Bibel sachliche Unrichtigkeiten auftauchen, sät die Aussage, die Bibel sei in jeder Hinsicht fehlerfrei, ziemlich viele Zweifel an diesem Buch.

Geholfen hat mir die Einsicht und die Entscheidung, dass die Bibel in Wahrheit viel mehr Thomas Mann ist als historische Fakultät, also vielmehr Literatur als Dokumentation. Und für Thomas Mann ist sachliche Fehlerfreiheit nebensächlich. Der erfindet auch mal ein Haus, wenn er es für die Geschichte braucht.Die Wahrheit der Bibel

Es geht um etwas anderes

Noch beruhigter war ich, als ich merkte, dass es bei den meisten Bibeltexten um etwas völlig anderes geht als wie die gedruckten Buchstaben auf den ersten Blick vermitteln.

So geht es beim ersten Schöpfungsbericht nicht darum, wie und in welcher Reihenfolge Gott die Welt erschaffen hat, sondern es geht darum, dass der Sabbath über dem Menschen steht und über dem Licht.

So geht es bei den Vorgängen um Abrahams Kind als Segensträger für die Menschheit überhaupt nicht um Abrahams Kind. Abraham hatte mindestens 8 Kinder, da wären genügend Segensträger vorhanden gewesen. Es ging aber nicht um Abrahams Kinder, sondern um Saras Kinder.

Es geht beim Psalm 23 nicht um ein Erbauungslied, wie sie Hedwig von Reedern geschrieben hat, und auch nicht darum, zu zeigen, wie gut David es mit Gott hatte, sondern dass Gott selber als der Versucher an einen Menschen herantritt.

Mehrfach berichtet die Bibel, dass Gott oder Jesus sagte, dass das Wort Gottes mit Absicht so gestaltet ist, dass der oberflächliche Leser nicht versteht, um was es geht, dabei aber das Gefühl hat, er habe es selbstverständlich verstanden.

Dieser Punkt, dass Gott bezüglich der meisten Menschen überhaupt nicht will, dass sie ihn verstehen, hat mich neugierig gemacht. Nicht nur, dass ich nicht zu diesen Leuten gehören will. Sondern weil ich wissen möchte, was das ist, was Gott vor den meisten Menschen geheim halten will. Was also steht in dem Text, was nicht in dem Text steht?

Das Werden des Kanons

Neues Stirnrunzeln setzt ein, wenn man sieht, wie das Neue Testament entstanden ist.

Die ersten 150 Jahre nach Jesu Auferstehung gab es erstmal gar keins. Es gab zwar eine ganze Reihe von Schriften – viel mehr, als heute im Neuen Testament versammelt sind – aber diese Schriften waren nicht „Wort Gottes“. Sie informierten über das Leben Jesu, oder es waren eben die Briefe von Paulus und Petrus, und man las alle diese Schriften gerne und mit Gewinn. Aber „Wort Gottes“ war das alte Testament, und ein neues gab es nicht.

Im Jahr 140 hat ein Schiffskaufmann namens Marcion erstmals eine Liste gemacht, in der er festlegte, welche Schrift als Wort Gottes gelten darf. Diese Liste war so krud – Marcion verwarf das gesamte alte Testament und ließ von den Evangelisten nur Lukas gelten – dass die Kirche sich im Laufe der Jahre gezwungen sah, ihrerseits Listen aufzustellen.

Das hat dann aber nochmal 200 Jahre gedauert, war so eilig also nicht und diente weniger dazu, die Wahrheit festzulegen, als die Unwahrheit (z.B. die Marcion) als solche zu kennzeichnen.

Wenn man noch dazu bedenkt, dass im Alten Testament nirgends die Entstehung eines neuen schriftlichen „Wort Gottes“ angekündigt wird – wo doch sonst alles angekündigt wurde, der Messias und sein Tod und die weltweite Gemeinde und der Heilige Geist für alle – und ja auch Jesus nie gesagt hat: „Wenn der Text mal fertig ist, dann habt ihr Gottes Wort ganz neu“, da fragt man sich ja schon, was man mit diesem neuen Teil der Bibel jetzt anfangen soll.

Fazit

Wenn man die Zuverlässigkeit der Bibel als Gottes Wort mit Logik und Verstand ergründen will, dann kommt man nicht weit. Zu viele Zufälle und zu viele Machtinteressen spielen eine Rolle, und die zahllosen Ungereimtheiten haben Theologen von jeher zu vielen argumentativen Verrenkungen verleitet.

Ob die Bibel Gottes Wort ist, erfährt man durch Ausprobieren.

Und man erfährt es nur, wenn man anerkennt, dass Gott über seinem eigenen Wort steht.

Gott ist also hierarchisch höher als all das, was ich für sein Wort halte. Und das letzte Wort hat nicht die Bibel, denn sie muss immer ausgelegt werden, ist immer dehnbar und immer meinem Verständnis oder meinem Unverständnis unterworfen. Klüger als ich nicht bin, kann das nicht sein, was ich in der Bibel finde. Oder die Regel für alle Bücher und Schriften, formuliert von Georg Christoph Lichtenberg: Wenn ein Affe hineinschaut, kann kein Weiser herausschauen.

Heutzutage haben wir eine Bibel, und Gott benutzt sie als sein Wort. Gott hat seinen heiligen Geist hinein getan, und darum kann man, wenn man will, Gott durch die Buchstaben hindurch hören.

Und so benutzte ich heute die Bibel: Als Text, hinter dem Gottes Wort verborgen ist. Der Text an sich, in dem Paulus dem Timotheus mitteilt, dass er mehr Wein trinken soll, ist nicht Gottes Wort, sondern des Paulus private Meinung.

Aber hinter diesen Worten steckt irgendwo das, was Gott mir sagen will. Das hat dann mit Wein und Magenschmerzen nichts mehr zu tun.

Aber das ist dann im tiefsten Sinne göttlich, heilig und unantastbar.