Der heilige Kuss

Fünfmal wird in den Briefen des Neuen Testamentes zum Küssen innerhalb der Gemeinde aufgefordert.

Das ist nicht schlecht angesichts der Tatsache, dass Judas den Jesus ja mit einem Kuss … (Lk 22,48; Mt 26,48).

Nun hatte der Kuss im alten Orient bestimmte Bedeutungen und fand unter genau definierten gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen statt. (Auch unsere Begrüßungsrituale unterliegen eindeutigen und engen Regeln. Diese sind uns nur nicht so bewusst, weil wir uns automatisch daran halten.)

Im Großen und Ganzen waren die Regeln im Altertum diese:

  • Verwandte begrüßten sich mit einem Kuss.
  • In gesellschaftlicher Position Gleichgestellte begrüßten sich mit einem Kuss. Damit war der Kuss die Mitteilung an den anderen, dass man ihn als gleichwertig akzeptiert.
    • Folglich war es im normalen Verkehr natürlich ausgeschlossen, dass ein Tagelöhner seinen Arbeitgeber küsste oder ein Sklave seinen Besitzer. Auch umgekehrt ging es nicht. Und wer einen unreinen Beruf ausübte (Zöllner, Gerber) konnte keinen Pharisäer küssen.
  • Zum Ausdruck großer Ehrerbietung küsste man dem Anderen die Hand, als Zeichen von Unterwerfung die Füße. Diese Art des Küssens brauchen wir bei der Betrachtung des Heiligen Kusses aber nicht zu berücksichtigen.

Nun gibt es natürlich die Meinung, dass die Gemeindeglieder sich im Anschluss an die Verlesung des jeweiligen Briefes küssen sollten. Um zu dokumentieren, dass sie mit dem Brief des Paulus (oder Petrus) einverstanden sind. Also „grüßet euch mit dem heiligen Kuss, und zwar jetzt sofort alle!“

Streichen Sie diesen Quatsch. Es ist nicht die Art der Apostel des Neuen Testamentes, auf diese Weise moralischen Druck oder Gruppenzwang auszuüben. Man schrieb Briefe in der Hoffnung auf freiwillige Anerkennung des Geschriebenen, nicht als befehlshabender Diktator.

Sondern was dieser heilige Kuss ausdrücken soll, ist sowohl die neu entstandene Verwandtschaft der Gemeindeglieder, die nun alle Kinder Gottes und damit Geschwister sind, als auch der Gedanke der Gleichberechtigung gegenüber Gott.

Dabei muss man bedenken, dass der Gedanke der Gleichberechtigung, der bei uns im Grundgesetz steht und auch in der Menschenrechtscharta der UN verankert ist, in den damaligen Gesellschaften völlig fremd war.

Im Judentum gab es schon die Gleichberechtigung aller Männer gegenüber Gott und aller Frauen. Was den Gottesdienst im Tempel anging, gab es keinen Unterschied zwischen Reichen und Armen, Gebildeten und Ungebildeten. Sogar der König stand bezüglich des Gottesdienstes und der priesterlichen Weisung auf einer Ebene mit dem Volk.

Wobei man natürlich einräumen muss, dass zur Zeit Jesu aufgrund des Pharisäismus diese Rechte weitgehend aufgeweicht waren, denn die „Sünder“ hatten gegenüber den „Gerechten“ viel weniger Rechte auf Gottes Segen. Darum sind solche Hinweise Jesu wie Lukas 7,42 nötig, in denen Pharisäer und Sünderin auf eine Stufe gestellt werden, nämlich auf die Stufe der ausschließlich Beschenkten.

Übrigens war die Tatsache, dass der Pharisäer Simon den Jesus in Lukas 7 nicht zur Begrüßung geküsst hat, völlig in Ordnung. Simon hatte mit Vorsatz nicht die Absicht, Jesus auf eine Stufe mit sich selbst zu erheben. Immerhin aß Jesus mit Zöllnern und Sündern, da war eine solche Solidarisierung des Pharisäers kaum möglich. Obwohl Simon ja durchaus eine hohe Meinung von Jesus hatte oder zumindest eine gewisse Hoffnung auf ihn setzte, denn er hoffte immerhin, dass Jesus vielleicht ein Prophet sei, und nannte ihn „Rabbi“.

Für die heutige Gemeinde

Nun müssen wir heute nicht mehr gekünstelt rumknutschen, denn der Kuss hat in unserer Kultur nicht mehr die Bedeutung, die er früher hatte. Wir würden mit der Küsserei nicht mehr das ausdrücken, was ein Kuss damals ausgedrückt hat.

Die Aussage, die hinter der Aufforderung zum Kuss stand, bleibt aber selbstverständlich bestehen und ist heute nicht weniger wichtig als damals:

Den Anderen so annehmen, wie Gott ihn und mich angenommen hat.

Also nicht nur tief durchatmen und den Anderen mit Müh und Not ertragen.

Sondern den anderen als von Gott geliebt wie ich selber erkennen und ihn als Gleichberechtigten behandeln.

Selbst dann, wenn man das im normalen Leben niemals täte.

Und den Anderen als Verwandten ansehen, dem gegenüber man verpflichtet ist und den man niemals fallen lassen darf und dessen Schicksal ich mit zu tragen habe.

Und das alles nicht etwa aus Gehorsam, also zähneknirschend.

Sondern gerne.

Und wenn es schwierig ist, Gott darum bitten,

  • dass er mir dabei hilft
  • dass er den Anderen segnet, auch wenn ich das Segnen des Anderen nicht so gut hinbekomme.

Denn das Problem ist heute noch genauso aktuell wie damals.

Nur die Küsserei, die ist nicht mehr aktuell.

Nachtrag

Hier noch die 5 Bibelstellen in den Briefen, in denen der heilige Kuss gewünscht wird:

Römer 16,16

16 Grüßt einander mit heiligem Kuss! Es grüßen euch alle Gemeinden des Christus.

1.Korinther 16,20

20 Es grüßen euch die Brüder alle. Grüßt einander mit heiligem Kuss!

2.Korinther 13,12

12 Grüßt einander mit heiligem Kuss! Es grüßen euch alle Heiligen.

1.Thessalonicher 5,26

26 Grüßt alle Brüder mit heiligem Kuss!

1.Petrus 5,14

14 Grüßt einander mit dem Kuss der Liebe! Friede euch allen, die in Christus sind!