Stammbäume in der Bibel – Chaos und Durcheinander

Dieses ist eine Trimesterarbeit, welche der Betreiber dieses Internetauftritts im Jahr 1984 an der Bibelschule geschrieben hat. Sie können hier sehen, was für ein kluges Kerlchen der Autor schon mit 25 Jahren war.

Naja.

Schlecht ist dieser Arbeit nicht, und als Überblick über die Problematik mit den Stammbäumen ist sie lesenswert. Sicher würde man heute, 40 Jahre später, schöner schreiben und mehr auf die Einzelheiten eingehen. Aber in der Gesamtheit ist diese Arbeit richtig und gut für Ihre Bildung. Wenn Sie also nicht dumm sterben wollen, lesen Sie jetzt weiter.

1. Einleitung in die Problematik

Ein großer Teil des Alten Testamentes ist durchwoben von Listen, wobei einige extrem lange und ausführliche Stammtafeln besonders hervorstechen. Diese Stammbäume sind ein Phänomen, das nach einer Erklärung verlangt - warum wurden so viele Seiten Papier für solche Tafeln verwendet, wo doch Papier in alter Zeit teuer und Abschreiben zeitraubend war?

Erschwerend kommt noch hinzu, dass diese Stammbäume sich untereinander oftmals widersprechen oder sehr konfus und systemlos erscheinen. Und das stellen ja nicht erst wir in der heutigen Zeit fest: Die Menschen, die die biblischen Bücher früher durch Abschreiben mit der Hand vervielfältigt haben, haben doch auch gemerkt, dass da was nicht stimmt. Die waren schließlich nicht dümmer als wir. Trotzdem haben sie keine Berichtigungen und Änderungen, keine Anpassungen vorgenommen, sondern haben die Stammbäume mitsamt den Widersprüchen und Fehlern einfach so abgeschrieben. Störte es sie nicht? Und störte es die Leser und Hörer der Jahrhunderte vor und nach Christi Geburt nicht?

Und welchen Sinn haben diese Stammbäume, wenn sie doch offensichtlich nicht den geschichtlichen Tatsachen entsprechen? (Da, wo zwei widersprüchliche Stammbäume oder Einzelangaben beschrieben werden, kann ja nach der Natur der Sache höchstens eine Angabe richtig sein.)

Mit dieser Arbeit will ich versuchen, diese Fragen zu klären.

Dazu werde ich mir einige wenige Stammtafeln vornehmen und exemplarisch an ihnen zeigen, was ihr Sinn ist, denn ich kann im Rahmen dieser Arbeit nicht auf alle Listen des Alten Testamentes eingehen.

2. Wie die Juden die Bibel verstanden

Wir Europäer sind vom griechischen Denken geprägt, ja nicht nur geprägt, sondern wir denken griechisch. Das bedeutet sachbezogen, faktenbezogen, gradlinig, klar und deutlich. Wahrheit ist für uns eine faktische, beweisbare, eindeutige Wirklichkeit. Die Juden dachten anders. Wahrheit und Wirklichkeit waren für sie relativ.

Die Wahrheit hing für die damaligen Menschen vom Standpunkt ab. Das sieht in der Praxis nicht so aus, dass man lügt, wo es einem gerade passt. Aber man kann die sichtbaren Tatsachen, also die Wirklichkeit, deuten, um eine Meinung oder das Verständnis eines gewissen Ereignisses zu belegen. Es kommt dabei nicht unbedingt auf die sachliche Richtigkeit und Beweisbarkeit der Argumente an, sondern auf die Aussage, auf die Lehre, die man aus dem Ganzen ziehen kann. Oft waren den Zuhörern die wahren Fakten bekannt, aber es störte sie nicht, eine Geschichte oder Auslegung zu hören, die die Fakten ein bisschen verdrehte um der zu ziehenden Lehre willen. Die Lehre war wichtig, die Abgerundetheit der Erzählung, nicht absolute Sachlichkeit.

In diesem Licht muss man auch das Alte Testament lesen, denn so wurde es geschrieben. Die vielen verschiedenen Schreiber hatten nicht die Absicht, ein exakt erforschtes und sachlich richtiges Geschichtswerk zu schreiben. Oder, um auf das Thema dieser Arbeit zu kommen, eine genaue, lückenlose und fehlerfreie Abstammungstabelle vom ersten aller Menschen bis zum Wichtigsten aller Menschen zu erstellen. Wäre dieses ihre Absicht gewesen, so könnte man nach dem heute vorliegenden Ergebnis ihre Absicht als gründlich misslungen bezeichnen.

Die Autoren der Bibel wollten die Geschichte Gottes mit den Menschen aufzeichnen. Das ist ein sehr subjektives Vorhaben. Und so subjektiv wird auch an die Tatsachen herangegangen.

Die Tatsachen werden alle auf die Absicht des Schreibers bezogen, sie werden alle mit Gott und seinem Handeln in Beziehung gesetzt und aus dieser Sicht heraus gedeutet. Das Ereignis an sich ist in seiner reinen Sachlichkeit nebensächlich; wichtig ist die Lehre, die über Gott und sein Handeln und Sein gezogen werden kann. Wichtig sind nicht die Siege Israels über die Nachbarvölker, sondern das Handeln Gottes für sein auserwähltes Volk, sein Sieg unter Verwendung der israelitischen Streitmacht.

Wichtig ist nicht der allgemeine Wohlstand des Landes, sondern dass er unter einem gottesfürchtigen König eintrat und somit eine Folge des Gehorsams ist.

Wichtig ist nicht die rein sachliche Situation des Exils, sondern dass Gott das Volk auf diese Weise strafte. Und damit ist auch nicht die sachliche Richtigkeit der Stammbäume unbedingt wichtig, sondern die Aussage, die mittels dieser Stammbäume gemacht werden soll.

"....war es wohl auch gar nicht die Absicht unseres Erzählers, sie nach ihrer Einschweißung in das große Werk in allen ihren Einzelheiten aufeinander auszurichten. Vermutlich waren sie ihm schon in ihrer überkommenen Gestalt so unantastbar und verbindlich, dass für ihn die Aufgabe des Angleichens, der 'Harmonisierung’, auch bei sehr deutlichen Unstimmigkeiten nicht bestand. Der gewissenhafte Leser muss also bei diesem Erzähler immer ein gewisses Unterscheidungsvermögen haben, einerseits für die Besonderheiten der jeweiligen Einzelüberlieferung, andererseits für die Hauptgedanken, die der Erzähler selbst durch die Zusammenordnung so vieler Überlieferungen zu einem Ganzen zum Ausdruck gebracht hat; es ist nun klar, dass wir das Eigene unseres Erzählers mehr in der Gesamtkomposition als in ihren Einzelheiten sehen müssen. Und für die Auslegung muss natürlich gelten, dass bei Unstimmigkeiten zwischen Einzelheiten der übernommenen Überlieferungen jener übergreifenden, gedanklichen Linie das Übergewicht und das letzte Wort bleiben muss.“ (Von Rad, S.89f)

Die Eigenleistung des Autors eines biblischen Buches bezüglich der Stammtafeln besteht also nicht darin, dass er sie erst zu solchen zusammenstellt, sondern er übernimmt sie aus verschiedenen Quellen und stellt dann die einzelnen, übernommenen Listen so hintereinander, dass sie in ihrer Aussage den Zweck erfüllen, zu dem der Autor das Buch schreibt. Und wenn dann die Einzelheiten nicht so genau stimmten, dann machte das nichts, denn es kam auf die Gesamtaussage an; auf diese achteten die Hörer und Leser; kleinliche Einzelheiten waren nicht wichtig. Das Alte Testament will eine Aussage machen. Keine historische, sondern eine religiöse. Und so liegt das Gewicht bei den Aussagen des Alten Testamentes also auch nicht auf den sachlichen Fakten, sondern auf den religiösen Aussagen. Das haben wir zu beachten wenn wir jetzt die Stammbäume betrachten.

3. Stammbaum der Väter von Adam bis Noah

Diese Stammtafel in Genesis 5, die auch im Chronikbuch noch einmal wiederholt wird, ist nicht nebensächlich. Sie ist nicht aus Verlegenheit oder der Form halber hier eingefügt. Sondern sie steht wohlüberlegt am Anfang eines neuen Abschnittes der Urgeschichte. Sie führt vom Anfang der Welt hin zur Geschichte Noahs und bearbeitet dabei einen ganzen Zeitabschnitt. Diese Zeitabschnitte spielen im Alten Testament überall eine große Rolle, denn laut der Vorstellung der Juden gliedert sich das Handeln Gottes an der Menschheit in bestimmte zeitliche Abschnitte, bei denen nicht nur ihre Existenz wichtig war, sondern auch ihre zeitliche Dauer, und bei der auch die unterschiedlicher Inhalte der Zeitepochen für wichtig erachtet wurden einschließlich der Reihenfolge der Zeitabschnitte und Geschehnisse, die nicht vertauscht werden konnten.

Dieser Stammbaum aus Genesis 5 soll Verschiedenes zeigen:

1)

Die Menschheit, die in der Geschichte von Noah als gefallen erscheint, stammt von Adam ab und trägt die Konsequenzen seiner Sünde. Die Verbindung zwischen dem Fall Adams und dem Fall der Menschheit soll gezeigt werden.

2)

Gott war den Menschen noch ein Begriff, denn Noah lebte Gott fürchtend. Es scheint also so, als ob das Wissen von und über Gott von Mensch zu Mensch weitergegeben worden ist. [Zusatz von 2025: Oder dass Gott tatsächlich noch auf der Erde anwesend und anzutreffen war. Das würde erklären, warum Kain weggehen konnte vom Angesicht des Herrn (Gen 4,16) und sich vor Gottes Angesicht verbergen musste (Gen 4,14) und wieso die Söhne Gottes Menschenfrauen heiraten konnten (Gen 6,2). Himmel und Erde wurden offensichtlich erst durch die Sintflut getrennt.]

3)

Die Jahreszahlen sind wichtig. Im Zusammenhang des ganzen Alten Testamentes sieht man, dass sie, je weiter die Menschen rein zeitmäßig sich vom Paradies entfernten, immer niedriger wurden, dass also mit der zeitlichen Entfernung vom Paradies auch das Alter der Menschen abnahm. Es gibt natürlich vom griechischen Denken her naturwissenschaftliche Erklärungen für dieses Phänomen, aber die jüdische Erklärung ist wohl, dass die Zahlen zeigen sollen, dass der Mensch, je weiter er sich -(zeitlich)- von seinem Schöpfer entfernt, umso mehr dem Tod geweiht ist. Es fällt auf, dass diese Liste große Ähnlichkeit bei großen Unterschieden zur Abstammungsliste Kains in Gen 4;17ff aufweist. Von Rad vermutet (S.56), dass es sich um dieselbe Liste handelt, die von zwei verschiedenen Autoren unterschiedlich genutzt wurde, denn er geht davon aus, dass das Buch Genesis eine Zusammenfassung verschiedener Quellen ist.

4. Die Völkertafel in Genesis 10

"Der Leser darf an diesen Text nicht mit irrtümlichen Voraussetzungen herangehen. Die Völkertafel entfaltet die Menschheit weder nach ihren Rassen, noch nach ihren Sprachfamilien. Es sind vielmehr Völker, die je nach ihrer politisch-geschichtlichen Erscheinungsform voneinander abgegrenzt oder zueinander in Beziehung gesetzt werden. Da sich also in der priesterlichen Völkertafel eine ganz bestimmte Phase der großen und vielverschlungenen altorientalischen Geschichte spiegelt, müssen wir die Auslegung in Gestalt eines kleinen geschichtlichen Exkurses geben." (Von Rad, S.116)

Diese Völkertafel in Genesis 10 führt unter den Söhnen Japhets alle die Völker an, die im Gebiet des ehemaligen Hethiterreiches lebten, in das sie im Rahmen der großen allgemeinen Völkerwanderung um 1200 v.Chr. eingewandert waren. Diese Völker sind aber in keinster Weise untereinander verwandt. Es sind sowohl alteingesessene Völker dieser Landstriche (Tibarener, Moscher, Torgama) als auch Seevölker, die hier sesshaft geworden waren (Tiras), es sind die Ionier, die sich bis hierher ausgebreitet hatten und auch Völker, von denen wir in der Geschichte erst Jahrhunderte später und viel weiter östlich hören (Meder, Kimmerier).

Aber nicht nur das eng umgrenzte Gebiet des Hethiterreiches wird genannt, sondern auch Völker weit entlegenerer Gebiete wie zum Beispiel Elisa (Zypern) und Tarsis (im Südwesten Spaniens). Die Liste der Söhne Hams deckt den südlichen Teil der damals bekannten Welt ab, wobei erstaunlich ist, dass das semitische Kanaan hier zu den Nachkommen Harns gerechnet wird. Das liegt wohl daran, dass das Land zur Zeit der Erstellung der Tafel gerade von Ägypten besetzt war.

Auch bemerkenswert, dass hier aus den Hettitern ein kanaanäisches Untervolk wird. Offensichtlich war das Wissen über das hethitische Großreich bei Erstellung der Tafel schon nicht mehr vorhanden.

Unter den Söhnen Sems sind die östlichen Völker aufgezählt, die bis nach Syrien vordrangen. Erstaunlich ist neben anderen Ungereimtheiten, dass die Assyrer genannt sind, die Babylonier aber fehlen.

"Die Völkertafel ist Priesterlehre im eigentlichen Sinn des Wortes: sie ist ein Teil des sakralen Weltbildes, wie es an den Heiligtümern überliefert und gelehrt wurde, und als solches ist es ein Dokument von einem erstaunlichen theoretischen Vermögen. Nirgends findet sich eine der biblischen Völkertafel vergleichbare Übersicht des Völkerzusammenhangs, eine nach Maßgabe ihres Gesichtskreises so universale und jedenfalls ihrer Abzweckung nach so allumfassende“. (Von Rad,S.119)

Diese Völkertafel will also kein geschichtliches Dokument sein, sondern ihr Ziel ist es, darzustellen, dass Noah und seine Söhne dem Befehl Gottes in Genesis 9:1 „Seid fruchtbar und mehret euch" nachgekommen sind und dass Gott sie dabei gesegnet hat. Sie soll zeigen, dass alle Völker der Welt (es sind wohl alle bekannten Völker bis auf wenige Ausnahmen vertreten) durch Gottes Willen und Segen entstanden sind. Die Aufzählung soll aber sicher auch auf den Erwählungscharakter des Volkes Gottes unter den vielen anderen Völkern hinweisen und möglicherweise (aber das ist griechisch gedacht) zeigen, dass von den vorsintflutlichen Völkern wirklich keines mehr übrig ist, sondern alle von den Söhnen Noahs abstammen.

Sachlich richtig ist diese Tafel also nicht. Aber sie hat einige theologische Aussagen. Und das ist ihr Sinn.

5. Die Stammtafeln der Bücher Chronik

Es gibt kaum etwas Widersprüchliches und konfuseres als die Stammtafeln der Chronikbücher im Alten Testament. So bringt der Schreiber es tatsächlich fertig, mehrmals direkt hintereinander verschiedene Listen ein- und desselben Stammes zu bringen, die überhaupt nicht zueinander passen, sich in weiten Passagen widersprechen und von denen folglich immer mindestens eine fehlerhaft sein muss. Des Weiteren werden massenhaft Verwandtschaftsbeziehungen genannt, die sich nirgendwo anknüpfen lassen und somit ihren sachlichen Wert im Rahmen eines Stammbaumes natürlich verlieren, weil sie sich nicht in den Stammbaum eingliedern lassen. Da sie also keine Beweiskraft haben, was sollen diese Listen dann? Ganz einfach macht die Antwort sich Aebi auf S.56:

"Liese Listen hatten für die Israeliten jener Zeit besondere Bedeutung als Beweis der Zugehörigkeit der verschiedenen Geschlechter zur Gemeinde Gottes."

Aber gerade das beweisen die Stammbäume der Chronik ja nicht. Diesen Sinn erfüllen sie eben nicht.

Ehrlicher und verständlicher gibt das Handbuch zur Bibel auf S.286 Auskunft:

"Die Listen sind nicht auf Vollständigkeit angelegt. Im Zusammenhang mit seinen Zielen legt der Chronist besonderen Wert auf die Familie Davids sowie die Stämme Juda, Benjamin und Levi. Die Stammbäume bilden eine Einführung in die Geschichte, die in Kapitel 10.beginnt, und die Bindeglieder zu den ursprünglichen Adressaten."

Nun gut, aber das hätte sich doch auch kürzer machen lassen. 9 Kapitel Namenslisten, das kann doch nicht nur eine Einleitung sein, da muss doch mehr Sinn dahinterstecken (man bedenke die viele Arbeit beim Abschreiben!). Auskunft gibt dasselbe Buch auf derselben Seite:

"Der Chronist wählte seine besonderen Themen im Blick auf seine ursprünglichen Leser - die Leute, die aus dem Exil zurückgekehrt waren, um unter Esra und Nehemia Jerusalem neu aufzubauen.“

Diese Stammbäume waren also nicht für Leser und Hörer ewiger Zeiten geschrieben, sondern für Menschen bestimmter Zeit in einer bestimmten Situation mit ganz spezifischen Bedürfnissen.

Und für diese Menschen waren die Stammbäume der Chronikbücher sehr wichtig und brauchbar. Schlatter schreibt über den Sinn der Stammbäume auf S. 109:

"Wir sollen an diesen sehen, wie das Volk unter Gottes Leitung sich weiter entfaltet und gegliedert hat."

Der Sinn der Stammbäume liegt nicht in den einzelnen Worten, es ist kein wörtlicher Sinn. Deshalb darf obiges Zitat auch nicht griechisch denkend verstanden werden. Diese Listen in den Chronikbüchern dürfen nicht als Beweismittel für die Stammeszugehörigkeit einer bestimmten Person zu einem bestimmten Stamm verstanden werden. Sie sind eher ein literarisches Stilmittel. Der Autor hätte genauso eine sachliche verbale Aussage etwa dieses Wortlautes machen können:

"Wir, die Rückkehrer, sind Nachfahren der Stämme Israels und damit Nachkommen Adams, Abrahams und Jakobs und sind aufgrund dieses Erbes sowohl Träger der Verheißungen als auch verpflichtet, den Kultus für Jahwe zu erneuern."

Aber diese Worte wären für die Menschen der damaligen Zeit nicht halb so wirkungsvoll und motivierend gewesen wie die Stammtafeln mit all den Namen, die manch patriotische Gesinnung zu entflammen vermochten und außerdem nicht so plump waren wie eine einfache Aussage.

"Die Chronik ist kein Geschichtswerk im eigentlichen Sinn, wenn auch die Absicht, unter Benutzung von schriftlichen Quellen die Entstehungsgeschichte der nachexilischen Gemeinde zu schreiben, nicht zu verkennen ist. Die profane Geschichte und ihre Quellen haben in ihr gegenüber den älteren Geschichtswerken geringere Bedeutung, denn die eigene tendenziöse Auswertung und Ausgestaltung des Stoffes nimmt beim Chronisten weit größeren Raum ein als in den älteren Geschichtsbüchern. Das Werk dient vielmehr dem Erweis der legitimen Berechtigung des Gesetzesjudentums der nachexilischen Kultgemeinde des Jerusalemer Tempels aus der Geschichte." (Weiser,S.242)

Hat der Chronist nun geschummelt oder gar böswillig gelogen? Nein, sondern er meinte es gut, wie auch das Handbuch zur Bibel auf S.286 sagt:

"Nun muss man zugeben, dass die Chronikbücher einige Probleme aufwerfen. Der Chronist hat sich nicht gescheut, zu 'modernisieren'- vergangene Ereignisse so zu schildern, dass seine Zeitgenossen sie in ihrer aktuellen Bedeutung verstehen konnten."

Und das war wichtig, dass die Exilanten die Bedeutung der Geschichte verstanden, denn die wenigsten von ihnen hatten das Land schon mit eigenen Augen gesehen, sondern sie waren meistens im Exil geboren. So war es ganz wichtig, ihnen eine Identität zu geben in einer Situation, die es im Gottesvolk nie vorher gegeben hatte — übrigens treten deshalb diese Listen auch erst im letzten Buch der hebräischen Bibel wieder auf, nachdem die Stammeslisten seit den Büchern Mose nickt mehr in Erscheinung getreten waren.

Die Stammeslisten der Chronikbücher haben einen Sinn – nämlich den Heimgekehrten eine Identität zu geben und die Berechtigung für die Wiederaufnahme des Opfer- und Gottesdienstes zu schaffen.

6. Die Stammbäume im Ganzen

Wenn man seinen Blick losreißt von den Einzelheiten und hinlenkt auf das Gesamtbild der biblischen Stammbäume, in welchem dem einzelnen Stammbaum ja eine ganz andere Stellung und Gewichtung zukommt, fallen verschiedene Dinge auf:

Ganz besondere Betonung liegt auf dem Stammbaum Davids, sowohl aufwärts als auch abwärts. Denn aus dem Geschlecht Davids erwartete man den Messias, und so führt der Stammbaum Davids auch über viele Lücken und Unklarheiten zu Jesus. An der Entstehung des Stammbaumes haben viele Autoren mitgearbeitet, trotzdem langt er schließlich bei seinem Ziel an. Die Stammbäume mussten genauso zeigen, dass Jesus von David abstammt, wie dass er von Abraham abstammt. Aus diesem Grund ist der Stammbaum Jesu der einzige, der ein Ziel erreicht und der so lange in der Bibel geführt wurde. Allerdings: Die Art, wie das Ziel erreicht wird, ist auch fraglich und für griechisch denkende Leser sehr zweifelhaft. Die beiden Listen bei Matthäus und Lukas sind geschichtlich völlig unbrauchbar und würden nach unserem Empfinden das Ziel nicht erreicht haben, nämlich die Abstammung Jesu nachzuweisen. Aber bei den Juden musste man das eben nicht so beweisen in unserem Sinn. Bleibt trotzdem die Tatsache, dass der Stammbaum Davids im Alten Testament als Königsstammbaum sehr ausführlich und lange geführt wird, auch wenn vieles, wie z.B. die Geschichte von Ruth, mehr als ein Mittel zum Zweck erscheint als eine geschichtliche Wahrheit. Und dieser Stammbaum erreicht eben als einziger ein Ziel - Jesus - und kann damit als abgerundet und abgeschlossen gelten. Alle anderen Stammbäume der Kinder Jakobs enden recht unwillkürlich im Laufe der Zeit. Die meisten von ihnen hatten wohl nicht mehr Sinn als den, dass sie zeigen sollten, dass die 12 Stämme (deren Zahl ja heilsgeschichtlich schon eine Rolle spielt) sich im gelobten Land niedergelassen und ausgebreitet haben. Da den Angehörigen der meisten Stämme keine besonderen Aufgaben zufielen, werden ihre Stammbäume im Alten Testament auch nicht weit geführt (es ist fraglich, ob man die Aufzählungen der Chronik bei den kleineren Stämmen überhaupt für voll nehmen soll, denn sie fangen irgendwo mitten in der Geschichte an, ohne Anknüpfungspunkte und sichtbare Linienführung. Es sollte hier wohl nur gezeigt werden, dass diese Stämme auch aus dem Exil zurückgekehrt sind und somit Israel nach dem Exil wieder berechtigt ist, den Namen "Volk Gottes“ zu tragen.).

Weit geführt wird Levi - aber nur bis nach der Rückkehr aus dem Exil. Das war wichtig, um den Zurückgekehrten das Gefühl zu geben, wahre Nachfolger Israels zu sein und somit auch zum Priesterdienst berechtigt und berufen zu sein. Man brauchte eine Legitimation, um den Tempeldienst wieder aufzunehmen.

Es muss allerdings positiv angerechnet werden, dass man davon ausgehen kann, dass die Heimkehrer aus Babylon meistens ihre Zugehörigkeit zu den Stämmen kannten, und so kann man sicher davon ausgehen, dass zum großen Teil die richtigen Leute im Tempel von Nehemia gedient haben, also wahre Leviten. Das Bewusstsein der Stammeszugehörigkeit schwand ja auch nicht mit dem Ende der Stammbäume in dem Alten Testament, denn im Neuen Testament wissen die Menschen auch noch, zu welchem Stamm sie gehörten - Zacharias zu Levi, Jesus zu Juda, Paulus zu Benjamin. Aber man brauchte eben im Alten Testament nach der Rückkehr und der Neuinstallierung des Judentums in Jerusalem keine Listen mehr zu führen; die Verhältnisse und die Erbfolge waren ja wieder klar. Die Listen der Chronikbücher und andere brauchte man zu ihrer Zeit wegen der außergewöhnlichen Situation und dabei auch als Stilmittel, nicht nur als Beweis für irgendetwas.

Die levitischen Stammbäume werden im Neuen Testament im Gegensatz zum Stammbaum Juda nicht wieder aufgenommen, denn die Leviten verlieren ja ihre Rolle als Priester im Neuen Testament, und es wird ein allgemeines Priestertum mit geistlichen Opfern eingeführt, so dass kein Bedarf für Levitenlisten mehr besteht.

Der Stammbaum Manasse wird relativ weit geführt, weil die Zugehörigkeit des Ostjordanlandes zu Israel gezeigt werden sollte (Gilead!) und außerdem eine Anzahl wichtiger Richter aus diesem Stamm hervorgingen. Aber bereits nach der Richterzeit hört die Buchführung über Manasse im Alten Testament auf.

Der Stamm Benjamin erfährt nur eine kurze Darstellung, die zwar in der Chronik ausführlich fortgesetzt wird, aber so konfus ist, dass sie nicht zum Aufzeichnen verwendet werden kann. Ein Ausschnitt aus der Stammtafel Benjamin findet sich noch im Umfeld des Königs Saul, der aus diesem Stamm stammt und dessen Verwandtschaft aufgrund der ausführlichen Darstellung seiner Geschichte zutage tritt. Im Übrigen ist zu bedenken, dass der Stamm Benjamin einmal fast gänzlich ausgerottet wurde und später stark mit Juda verwuchs, da die Stadt Jerusalem genau zwischen den beiden Stämmen lag und sie damit einen gemeinsamen Mittelpunkt hatten.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Stammtafeln der Bibel einen Sinn haben, aber eben nicht den, geschichtliche Wahrheiten zu verbreiten. Der Sinn ist stets geistlicher, theologischer Natur, und er muss in der Sicht der Juden betrachtet werden, was dem heutigen Leser sehr schwer fällt. Denn diese Tafeln waren für die Menschen der damaligen Zeit gedacht und sollten ihnen eine Hilfe sein. Mit diesem Wissen müssen wir sie lesen und können es uns sparen, herumzukritisieren , dass das ja alles nicht vollständig sei. Denn damit beweisen wir nur die Unvollständigkeit unseres Verständnisses.

 

Bibliographie

Das erste Buch Mose, erklärt von Gerhard von Rad, Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen 1949

Artur Weiser: Einleitung in das Alte-Testament» Vandenhoeck und Ruprecht 1949 Göttingen

Adolf Schlatter: Einleitung in die Bibel, vierte Auflage, Calwer Vereinsbuchhandlung Stuttgart 1925

Handbuch zur Bibel, Brockhaus Verlag Wuppertal 1975

E.Aebi: Kurze Einführung in die Bibel, Verlag Bibellesebund Winterthur, 6. Auflage 1981

Johann Goettsberger: Einleitung in das Alte Testament, Herder & Co GMBH Verlagsbuchhandlung Freiburg 1928