Strukturelle Sünde

Die Evolution bringt nicht nur neue Lebewesen hervor.

Nein, es entstehen auch völlig neue Begriffe, die nicht einfach nur neue Wörter für alte Sachverhalte sind, sondern auf die Entstehung eines völlig neuen Konstruktes hinweisen.

Ein gedankliches Konstrukt, ein gesellschaftliches Konstrukt.

So entstand auch der Begriff der „strukturellen Sünde“.

Er stammt vermutlich von Leonardo Boff und kommt damit aus der Befreiungstheologie.

Mittlerweile wird der Begriff aber mit einer solchen Selbstverständlichkeit gebraucht, dass man uns gegenüber den Eindruck erwecken will, als gäbe es dieses Konstrukt in der Realität tatsächlich.

Sogar Papst Johannes Paul der zweite hat in seiner Enzyklika «Sollicitudo rei socialis» diesen Begriff benutzt, blieb aber – wie nicht anders zu erwarten – in der Ausdeutung des Begriffs und in der Bekämpfung der dahinter stehenden Tatsachen oder Verhaltensformen recht schwammig.

Warum es seltsam ist

Strukturelle Sünde wird verstanden als die Sünde, die ich begehe, weil ich ungewollt in Strukturen hineingerate, die zur Unterdrückung anderer, mir in der Regel unbekannter Menschen führen.

Einem (oder ganz vielen) anderen wird also irgendeine Freiheit genommen oder ein Teil seines Lebensglücks oder seines sonstigen Wohlergehens dadurch, dass ich T-Shirts kaufe, die durch Sklavenarbeit hergestellt wurden, oder dass ich Miete zahle in Städten, die so gebaut sind, dass sie den Menschen einsperren, entmenschlichen oder ihn der Natur oder den anderen Menschen entfremden.

Seltsam hierbei ist die Idee, dass es anders gehen könnte.

Denn wo Menschen und ihre Interessen aufeinander stoßen, wird es immer Gewinner und Verlierer geben. Selbst der Kommunismus hat es bis heute nicht geschafft, diese Gesetzmäßigkeit aus der Welt zu schaffen.

Wenn dann große und (allein aufgrund ihrer Zahl) mächtige Menschengruppen aufeinander stoßen, wird der daraus entstehende Gegensatz natürlich umso größer sein und sich umso massiver auswirken.

Zumal „Ungerechtigkeit“ keine definierte Tatsache ist, sondern immer ein Gefühl. Ob einem Menschen „Ungerechtigkeit“ widerfahren ist, hängt wenig von den Tatsachen ab, sondern fast ausschließlich von der Einstellung der beteiligten und beurteilenden Personen.

Strukturelle Ungerechtigkeiten sind also völlig unvermeidbar.

Wo Interessen aufeinanderstoßen, wird es Gewinner und Verlierer geben, und selbst wenn nicht, wird sich immer jemand finden, der eine Ungerechtigkeit entdeckt.

Der Begriff der Sünde

Eine Sünde kann ich nur gegenüber Gott begehen.

Es geht nicht anders. Per Definition. Sünde bezeichnet immer ein Vergehen gegen Gott.

Ein Vergehen gegen einen Menschen ist nur dann eine Sünde gegen Gott,

  • wenn mir von Gottes Seite ein solcher Umgang mit dem Menschen verboten ist, ich also gleichzeitig gegen die Interessen des anderen Menschen und gegen die Interessen Gottes handele
  • wenn dieser Mensch unter einem besonderen Schutz Gottes steht. Wenn Gott sich mit diesem Menschen identifiziert und ich darum, wenn ich den Menschen haue, Gott treffe.

Folglich muss man in der Diskussion um die strukturelle Sünde feststellen, ob Gott Gebote herausgegeben hat zum Umgang mit mir unbekannten und nicht persönlich kontaktierten Menschengruppen.

Denn: Wenn keine Gebote oder keine Anleitungen, dann auch keine Sünde.

Benachteiligte in der Weltgeschichte

Das Argument, mit der Globalisierung habe sich unsere Verantwortlichkeit verändert, ist unhaltbar.

Denn die benachteiligten und ungerecht behandelten Gruppen gab es schon immer.

Reiche, Großgrundbesitzer und korrupte Könige sind nichts Neues.

Dass Tagelöhnern der Lohn nicht bezahlt wird, Armen das letzte Hemd genommen wird und Wehrlose um ihre Rechte gebracht werden, ist so alt wie die Welt.

Sklaverei ist älter als das Rad.

Und schon immer war das ein strukturelles Problem.

Es war ja schließlich nicht der eine Reiche, der den einen Tagelöhner schlecht behandelt hat. Darum gibt es bei den Propheten auch Reden gegen die gesamte Oberschicht Israels, weil sie solches Unrecht taten.

Und auch die Produzenten der damaligen Zeit standen in einer weltweiten Konkurrenz, auch wenn ihre Welt damals kleiner war. Dass man Getreide und Pferde in Ägypten kaufte, war ja nicht eine seltene Ausnahme.

Trotz aller dieser Verflechtungen kennt das Alte wie das Neue Testament nur die Sünde, die durch meine eigene Hand oder durch meinen eigenen Befehl geschieht.

Es gibt kein gesellschaftliches Versagen, für das letztlich keiner (oder alle) verantwortlich ist und aufgrund dessen purer Existenz der Mensch fast ohne sein Zutun zum Sünder wird.

Gott und Gruppen

Gott ist immer zuerst Gott einer Gruppe:

  • Zuerst war Gott der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, also der Gott einer Sippe.
  • Danach war Gott der Gott Israels, also eines Volkes, das von der gerade genannten Sippe abstammte.
  • Heute ist Gott zuerst der Gott der Gemeinde, denn diese ist der neue Körper seines Sohnes.

Von daher stand das Volk Israel in den Geboten und Prophetensprüchen auch immer Völkern als Gruppen gegenüber, da es selber ein Volk war.

Folgerichtig gibt es Weissagungen Gottes für oder gegen Babylonier, Edomiter, Ammoniter oder Assyrer immer nur in ihrer Beziehung zu Israel. Was diese Völker abseits von ihrer Beziehung zu Israel taten, findet wenig Berücksichtigung in der Bibel, weshalb auch die Chinesen oder Mayas in der Bibel nicht vorkommen, denn sie stehen in keiner direkten Beziehung zu Israel.

Es gibt im Alten Testament überhaupt keine Anweisungen für den Umgang mit den Benachteiligten anderer Völker. Die Armen, die Sklaven oder die Witwen Ägyptens, Babylons oder Moabs kommen in Gottes Gedanken nicht vor.

Wenn also die Babylonier ihre Textilarbeiter schlecht behandelten, war das den Autoren der Bibel egal. Es bestand höchstens ein indirekter Zusammenhang mit dem Volk Gottes.

Innerhalb Israels gibt es Ordnungen gegenüber den Armen, den Fremden und den Witwen. Die von Gott gewünschte Aktivität gegenüber diesem Personenkreis richtet sich aber nie auf die Gesamtgruppe, sondern immer nur auf einzelne Personen dieser Gruppe. Die israelitische Staatsführung wird also nicht aufgefordert, bessere Gesetze zum Schutze der Benachteiligten zu erlassen, sondern der einzelne Menschen wird aufgefordert, gegenüber dem Benachteiligten in seinem Umfeld ein bestimmtes Verhalten an den Tag zu legen.

Im Neuen Testament ist die Gemeinde die Peergroup, und die „Gegengruppe“ ist die Welt.

Die Christen werden nun aber nicht aufgefordert, zum Wohlergehen oder Gedeihen dieser anderen Gruppe beizutragen, sondern sich von ihr fernzuhalten.

  • Nicht gleichförmig werden dieser Welt
  • nicht am gleichen Joch mit den Ungläubigen ziehen
  • nach diesem allen trachten die Nationen; ihr aber …
  • die Werke der Welt sind böse (Jh 7,7)
  • mein Reich ist nicht von dieser Welt
  • wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es bewahren (Jh 12,25)
  • wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen (1.Kor 2,12)

Wenn die Christen aufgefordert werden, an der Welt (als Gruppe) zu handeln, geht es nicht um finanzielle Gerechtigkeit oder gesellschaftliche Chancengleichheit, sondern immer darum, für mehr Glauben und mehr Heiligkeit in der Welt zu sorgen:

  • Ihr seid das Licht der Welt
  • Geht hin in alle Welt und predigt das Evangelium
  • Jesus ist gekommen, die Welt zu retten (Jh 3,17)
  • Bittet für die Obrigkeit, damit wir ein ruhiges Leben haben

Folgerung für den Umgang mit Gruppen mir unbekannter Menschen

Obwohl Gott immer zuerst ein Gott von Gruppen ist, gibt es weder im Alten noch im Neuen Testament irgendwelche Anweisungen, wie man mit Gruppen voller gottloser Mitglieder umgehen soll, die nichts direkt mit dem eigenen Leben zu tun haben.

Die Textilarbeiter in Bangladesch kommen in der Bibel – von Deutschland aus gesehen – nicht vor.

Der Stadt Bestes

Die wenigen Bibelstellen, die darüber sprechen, dass die Gläubigen etwas zum Wohle der staatlichen oder gesellschaftlichen Gemeinschaft beitragen sollen, haben als Begründung ausschließlich das Wohlergehen der Gläubigen, nicht die Verbesserung des Schicksals der unterdrückten Ungläubigen:

Jeremia 29,7

7 Und sucht den Frieden der Stadt, in die ich euch gefangen weggeführt habe, und betet für sie zum HERRN! Denn in ihrem Frieden werdet ihr Frieden haben. 

1.Timotheus 2,1-2

1 Ich ermahne nun vor allen Dingen, dass Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen getan werden für alle Menschen, 

2 für Könige und alle, die in Hoheit sind, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.

Es ist keineswegs so, dass Gott dazu angetreten ist, das Schicksal der gottlosen Massen zu verbessern.

Noch nicht einmal das Schicksal der gottlosen Einzelpersonen.

Auch wenn das sehr nette und liebe Menschen sind.

Jesus hat sich sogar geweigert, dem Israeliten zu helfen, dem sein Bruder das Erbe vorenthalten hat (Lk 12,13). Wenn Jesus noch nicht einmal das Unrecht an den Kindern Israel bekämpft, wie kommt man dann darauf, dass er die Ausbeutung der Gottlosen bekämpfen will?

Die fürchterlichen Folgen

Wenn es tatsächlich eine strukturelle Sünde gäbe, dann hätte das für Menschen mit einem empfindlichen Gewissen die Folge, dass sie fortwährend unglücklich und verzweifelt sein würden.

Denn sie kämen aus dieser Sünde ja niemals raus.

Sie wären unrettbar in einer ständigen Spirale der Schuld gefangen.

Das ist ja das Wesen der strukturellen Sünde: dass ich sie durch mein individuelles Verhalten noch nicht einmal im Promillebereich beeinflussen kann.

Ja, noch schlimmer: Ich kann die strukturelle Sünde oft überhaupt nicht erkennen!

Denn das, was ich heute mit gutem Gewissen tue, wird morgen von irgendeinem Soziologen als schreiendes Unrecht entlarvt, und dann kann ich es nicht mehr gutmachen.

Die Vergebung implodiert

Auch das Prinzip der Vergebung, das im Alten Testament durch die Opfer plus einen heiligen, gehorsamen Lebensstil und im Neuen Testament durch Jesu Opfer plus einen heiligen, gehorsamen Lebensstil zur Anwendung kommt, wäre mit der Existenz einer strukturellen Sünde dahin.

Denn die Vergebung, die ich durch Jesus erfahre, hat ja auch damit zu tun, dass ich den Fehler möglichst nicht so oft wiederhole, sondern langsam besser werde.

Das ist mir bei der strukturellen Sünde aber nicht möglich.

Ja, es wäre mir noch nicht einmal möglich, eine Verbesserung meines Fußabdrucks oder meines Sklavenverbrauchs überhaupt festzustellen.

Denn wenn auf dem Kleiderlabel tatsächlich „ohne Kinderarbeit“ draufsteht, dann bezieht sich das, wenn alles gut läuft, auf die Textilfabrik, in der die Kleidung hergestellt wurde.

Aber ob die Baumwollernte, die Knopfproduktion, die Reißverschluss- und Garnproduktion ohne Kinderarbeit geschehen ist, kann ich nicht wissen, und ob die Metalle, aus denen Nieten und Gürtelschnallen hergestellt wurden, nicht von Kindern von den Müllkippen gesammelt wurden, lässt sich kaum und schon gar nicht für jedes Kleidungsstück feststellen. Und wie werden eigentlich die Nähmaschinen und die Ersatznadeln hergestellt?

Und wenn etwas „fair trade“ ist – wer hat „fair“ definiert? Ist es tatsächlich fair in Gottes Augen oder nur fair in den Augen von Sahra Wagenknecht?

Was die Vergebung angeht, hätte ich also nur zwei Möglichkeiten:

  • Ich lebe in der Linie der Pharisäer, die ständig aufgepasst haben, dass sie nicht mit dem Tee auch die (unreine) Mücke verschluckten und die die Pfefferminze für den Tee grammgenau verzehntet haben, um sich nicht zu versündigen, und ich weiß, es wird mir nicht gelingen, und ich lebe ständig unter dem Druck, dass Gott mir hoffentlich vergibt.
  • Ich gehe davon aus, dass Jesus für alle meine Sünden gestorben ist, und weil ich meine strukturelle Sünde ohnehin nicht verhindern kann, lebe ich völlig ungeniert und halte mich an Luthers Ausspruch: „Sündige tapfer!“ oder an Augustinus: „Liebe Gott, und dann mach, was du willst.“ Ich zeige also der strukturellen Sünde den Stinkefinger.

Ursache und Herkunft der strukturellen Sünde

Der Fehler der Befreiungstheologie lag in ihrer Verwandtschaft mit der sehr liberalen Theologie.

Man fand Gott nicht mehr selber, als Person.

Sondern man fand Gott nur noch im Mitmenschen, im Gegenüber.

Im Mitmenschen darf man Gott zwar durchaus auch finden, aber der ungläubige Mitmensch ist bei weitem nicht der erste und wichtigste Fundort für Gott.

Außerdem erklärte diese Form der Theologie, dass vor Gott alle Menschen gleich sind.

Dass Gott alle Menschen gleichviel liebt.

Dass für Gott alle Menschen gleich wichtig sind.

Ein einziges Mal Lesen der ganzen Bibel müsste einem eigentlich die Erkenntnis dämmern lassen: Diese Behauptung ist nicht wahr.

Sinn der Nächstenliebe

 

Falls es Ihnen noch niemand gesagt hat: Die Bibel ist gottzentriert, nicht menschenzentriert.

Alle Formen von Liebe oder Nächstenliebe sind den Gläubigen aufgetragen, damit sie dadurch Gottes Werk wirken.

Der Andere soll Gott erleben, wenn er mit mir zu tun hat.

Es geht immer darum, dass der Andere „Heil“ erlebt, Rettung, Licht in der Finsternis, also letztlich Gott.

Es geht nicht darum, dass der andere sich auch ein Smartphone leisten kann oder auch einen 8-Stunden-Tag bekommt.

Wachsender Wohlstand oder zunehmende Lebensqualität sind in Gottes Augen weder gut noch schlecht, sondern neutral. Gott gewinnt nichts, wenn die Ungläubigen eine bessere Gesundheitsversorgung haben oder nicht mehr auf der Müllkippe wohnen müssen.

Alle schlechten Zustände auf dieser Welt sind Symptome. Es nützt nichts, die Symptome zu behandeln, wenn man die Krankheit völlig unbehandelt lässt.

Die Krankheit ist Gottlosigkeit mit allen ihren Varianten und Schattierungen.

Nächstenliebe diente weder im Alten noch im Neuen Testament der Symptombehandlung.

Sie will auf das Heilmittel für die Krankheit hinweisen. Oder auf den Arzt. Wie Sie wollen.

Zusammenfassung

Die strukturelle Sünde ist keine Erfindung Gottes.

Sie ist eine Erfindung der Menschen, die damit auf Missstände innerhalb der globalen menschlichen Gesellschaft hinweisen.

Diese Missstände existieren zum größten Teil; ihre Bewertung als „Sünde“ und „Unrecht“ ist aber keineswegs einheitlich und extrem davon abhängig, wer hier aus welcher Perspektive auf das Problem schaut.

Und nicht selten führt die Beseitigung dieser strukturellen Ungleichheit zu einer viel schlimmeren Benachteiligung.

Die Vertreibung der Großgrundbesitzer in Simbabwe führte zu Hungernöten und Armut, nicht zu mehr Wohlergehen für alle.

Womit wir dann bei den Parallelen zum politischen Handeln sind: Die Beseitigung von ungerechten Diktatoren wie Saddam Hussein oder Gaddafi haben das Unrecht nicht beseitigt, sondern potenziert.

Vergessen Sie also die strukturelle Sünde. Sie ist eine Fata Morgana.

Kümmern Sie sich aber um die persönliche und direkte Sünde.

Selbst dann, wenn die nur in Ihrem Kopf stattfindet.

Von daher kommt die Gefahr.