Verbalinspiration

Unter „Verbalinspiration“ versteht man die Idee, dass Gott die Urschriften der Bibel, also die hebräischen, griechischen und aramäischen Texte, wörtlich diktiert hat.

Dabei müssen sich die Autoren dieser Texte nicht unbedingt so gefühlt haben, als säßen sie gerade im Diktat. Die Vorstellung ist, dass die Autoren meinten, sie schrieben ihre eigenen Gedanken nieder. Aber Gott hat so Einfluss auf ihr Gehirn genommen, dass sie tatsächlich genau die Worte aufschrieben, die Gott haben wollte.

Insofern wäre dann der ganze Bibeltext wörtlich eingegeben, also diktiert.

Wozu das gut ist

Die Verbalinspiration hat für sich alleine überhaupt keinen Wert. Sie erhält ihren Wert erst dadurch, dass sie eine gewisse Ideologie stützen soll, welche in der Chicago-Erklärung von 1978 (diese können Sie hier als pdf herunterladen) am umfassendsten dargestellt ist. Einfach zusammengefasst, soll durch die Verbalinspiration die Irrtumslosigkeit der Bibel in historischer, biologischer, theologischer und jeder anderen Hinsicht bewiesen oder postuliert werden. Wenn Gott es diktiert hat, kann es ja nicht falsch sein. Gott weiß ja Bescheid.

Der Grund, warum man die Verbalinspiration erfunden hat, war natürlich erst einmal ein edler: Man wollte die Bibel mit ihrer Autorität verteidigen: In der Reformation gegen die menschlich erdachten Dogmen und Glaubenssätze der katholischen Kirche; im letzten Jahrhundert gegen die Angriffe der liberalen Theologie; im 18.Jahrhundert gegen die Aufklärung.

Der erste technische Fehler

Der auffälligste Fehler bei dieser Lehre der Verbalinspiration ist ein rein technischer. Also gar kein theologischer.

Denn verbal inspiriert sind ja nur die Urschriften. Also das, was Jesaja oder Amos oder Johannes zu Papier (oder Papyrus) gebracht haben.

Davon haben wir aber kein einziges Stück mehr. Da mögen diese Schriftstücke inspiriert sein, wie sie wollen: sie sind nicht mehr vorhanden, und damit sind ihre Eigenschaften natürlich auch irgendwie für die Katz. Wenn das Produkt verschwunden ist, sind die Eigenschaften des Produktes mit ihm verschwunden.

Wir haben heute nur noch Abschriften von diesen Urschriften.

Und wir haben viele solcher Abschriften. Tausende.

Und keine zwei sind gleich.

Die Unterschiede sind manchmal geringer und manchmal umfassender. Aber zwei gleichlautende alte Handschriften gibt es nicht. Was nun wirklich in der Urschrift drinstand, können wir nur raten.

(Dass es viele Theologen gibt, die denken, es gäbe oft nicht nur eine Urschrift, sondern mehrere, lasse ich hier außer acht.)

Es gibt viele Wissenschaftler, die sich mit der Frage beschäftigen, was denn nun der „echte“ Bibeltext sei. Maßgebliches Ergebnis in diesem Prozess ist das von den Herren Nestle und Aland (bzw. ihren Nachfolgern) herausgegebene griechische Neue Testament. Er gibt den nach wissenschaftlicher Erkenntnis wahrscheinlichsten ursprünglichen Bibeltext wider. Der kritische Textapparat, der die wichtigsten Abweichungen zur wahrscheinlichsten Lesart aufzählt, ist allerdings deutlich länger als der eigentliche Bibeltext. Weil es in den Abschriften eben so furchtbar viele Abweichungen gibt.

Im Grunde ist also die ganze wörtliche Inspiration für die Katz, weil wir es nun doch nicht wissen, sondern mit Hilfe der Abschriften, die wir haben, raten müssen, was die Autoren ursprünglich geschrieben haben könnten.

Der zweite technische Fehler

Dass Sie, lieber Leser, die Urschriften nicht lesen, ist klar. Die sind nicht mehr vorhanden, die können Sie also gar nicht lesen.

Die meisten von Ihnen werden aber auch den griechischen, hebräischen und aramäischen Text nicht lesen. Die wenigsten von Ihnen werden das in altgriechisch geschriebene Produkt von Nestle & Aland zu ihrer Erbauung konsumieren.

Sondern Sie lesen eine Übersetzung.

Und nun ist es wohlbekannt, dass man viele Worte oder Sätze so oder anders übersetzen kann. Da sie in der Sprache, aus der wir übersetzen, mehrere Bedeutungen haben können. Und in der Übersetzung müssen Sie sich für eine dieser Bedeutungen entscheiden. Und ob der Heilige Geist in Johannes 16,7 nun Beistand, Anwalt, Fürsprecher, Tröster oder wörtlich „der Herbeigerufene“ ist, macht im Text einen Unterschied.

Und selbst in der Elberfelder Bibel, die versucht, sich möglichst eng an den von Nestle & Aland herausgegebenen Text zu halten, sind die Fußnoten, welche die Bedeutungsalternativen für einzelne Wörter oder Sätze erwähnen, kaum zu zählen.

Von den hebräischen und griechischen Wörtern, von denen wir überhaupt nicht wissen, was sie eigentlich bedeuten und wo wir ihre Bedeutung aus dem Zusammenhang erraten müssen, mal ganz abgesehen.

Wenn Sie also eine gute oder wortgetreue Übersetzung lesen, lesen Sie nicht den Urtext, sondern Sie lesen den Versuch einer Übersetzung des Versuches des Rausfilterns des ursprünglichen Textes aus den vielen Abschriften.

In dem Moment ist natürlich jede Verbalinspiration dreimal ums Eck rum.

Die sich stellende Frage

Wenn es für Gott nun aber so wichtig war, dass wir sein Wort genau mit den richtigen Wörtern haben, warum endete seine Verbalinspiration dann bei den Autoren der Urschriften?

Warum hat Gott dann nicht auch in das Gehirn der Abschreiber gewirkt, so dass diese beim Abschreiben keine Fehler machen und es sich auch nicht erlauben, irgendwelche Ergänzungen zur Verbesserung des Verständnisses einzufügen?

Wenn die Heiligkeit der Bibel darin besteht, dass der Text wörtlich eingegeben ist, warum hat Gott dann nicht auch die Übersetzer inspiriert, damit sie haargenau das schreiben, was Gott in dieser oder jener Nuance sagen wollte?

Dann hätten wir am Ende genau eine einzige deutsche Übersetzung, denn die wäre dann inspiriert.

Wenn Gott die Überlieferung des Textes nicht bewahrt – es ihm also scheinbar nicht so wichtig ist, wie genau die Bibel ist, die wir lesen – dann erscheint die Forderung nach einer Verbalinspiration der Urschriften reichlich sinnlos. Denn ob das Anfangsprodukt perfekt war, ist für uns ja unerheblich. Wenn wir ein perfektes Produkt haben sollen, muss es das Endprodukt sein: Die Bibel, in die wir hineinschauen.

Und selbst wenn

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum die Verbalinspiration nicht besonders nützlich erscheint: Selbst wenn den fehlerlosen Originaltext vorliegen hätten, wüssten wir in vielen Fällen nicht, was Jesus mit seinem Gleichnis nun eigentlich sagen wollte oder was Gott uns mit einer Vision des Hesekiel tatsächlich mitteilen wollte.

Selbst wenn wir jedes einzelne Wort des Textes korrekt vorliegen haben, heißt das noch lange nicht, dass wir den Text auch verstehen.

Die vielen unterschiedlichen Auslegungen und Interpretationen der vorhandenen Bibeltexte zeigen, dass es entweder nicht so einfach ist, den Sinn, den Gott im Sinn hatte, zu verstehen. Oder dass es offenbar beabsichtigt ist, dass ein Text mehrere sehr unterschiedliche Aussagen machen kann.

Schauen Sie sich doch das Auslegungsdurcheinander an, das wir hinsichtlich des vorhandenen Bibeltextes haben! Selbst wenn der Bibeltext bis in den letzten Buchstaben inspiriert wäre, wüssten wir immer noch nicht, ob wir die Prügelstrafe für Erwachsene und für Kinder heutzutage beibehalten sollen, so wie es im Alten und im Neuen Testament entweder gefordert oder praktisch durchgeführt wird.

Selbst wenn die Satzzeichen (im Griechischen gibt es fast keine) vom Heiligen Geist eingehaucht wären, hätten wir das Problem, dass der Bibeltext von vorne bis hinten die Sklaverei als gesellschaftliche Institution akzeptiert. Zwar hat die Bibel für Kinder Gottes eine etwas andere Sicht auf die Sklaverei (die Israeliten wurden daraus befreit; Paulus empfiehlt frei zu kommen, wenn es geht; die Israeliten durften andere Israeliten nicht dauerhaft versklaven), aber die gesellschaftliche Institution als solche wird als selbstverständlich vorausgesetzt und darum auch bis in 19.Jahrhundert als gottgewollt verteidigt. Was machen Sie mit einem inspirierten Text, der etwas als selbstverständlich behandelt, was heute weltweit (zumindest offiziell) verpönt ist?

Hat Gott jetzt Unrecht? Hat er bei der Inspiration etwas übersehen?

Und was nützt uns die Idee der Inspiration, wenn wir danach auch nicht klüger sind als vorher?

Nichtsdestotrotz

Nun enthält die Bibel ohne Zweifel Gottes Wort.

Und sie ist das einzige Buch, welches das Reden Gottes in dieser Qualität enthält. Kein Buch Mormon und kein Wachturm können hier auch nur ein Mikrogramm beitragen.

Und wenn Sie den Ausdruck unbedingt benutzen wollen: Die Bibel ist auch inspiriert.

Sie ist Werkzeug des Heiligen Geistes, und sie ist randvoll mit Heiligem Geist.

Aber der Heilige Geist wirkt nicht durch die fehlerlose Folge von Buchstaben und Satzzeichen.

Falls Sie jetzt wissen wollen, wie der Heilige Geist denn dann durch dieses Buch wirkt: Ich werde es Ihnen nicht verraten.

Denn wenn Sie das nicht wissen, und wenn Sie das noch nie erlebt haben, dann kann der schönste und inspirierendste Artikel Ihnen nicht helfen.