Zweite Vollmachtsrede

Mt 7,28-29 das ist das Ende der Bergpredigt

28 Und es geschah, als Jesus diese Worte vollendet hatte, da erstaunten die Volksmengen sehr über seine Lehre; 

 29 denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten.

Zuerst muss man natürlich mal feststellen, dass die Pharisäer an der Misere keine Schuld trifft.

Dass die Pharisäer ohne Vollmacht lehrten, war im System auch genauso vorgesehen.

Denn der Pharisäer hatte nur die Bücher.

Nur das Schriftliche.

Druckerzeugnisse, auch wenn sie von Gott initiiert wurden, verleihen aber keine Vollmacht.

Sie verleihen Wissen oder Erkenntnisse.

Der Pharisäer war nicht direkt von Gott gelehrt. Er war durch Lesen gelehrt und durch Belehrung von Seinesgleichen gelehrt.

Es war also vom System her gar nicht vorgesehen, dass der Pharisäer eine Vollmacht hat.

Er hat eine Erkenntnis, und er kann versuchen, andere von der Richtigkeit seiner Erkenntnis zu überzeugen.

Der Schriftgelehrte ist zurückgeworfen auf das, was andere aufgeschrieben haben und auf das, was er daraus zu entnehmen in der Lage ist.

Damit wird er letztlich begrenzt auf seinen Verstand und sein sonstiges Denkvermögen. Mehr, als ich selber nicht verstehe, kann ich aus einem Text auch nicht herauslesen.

Wenn ich ein Fachbuch über Atomphysik lese, aber selber überhaupt nichts von Atomphysik verstehe, werde ich zu keiner vernünftigen Erkenntnis kommen.

Wenn ich ein rumänisches Buch lese, aber überhaupt kein Rumänisch kann, werde ich zu keiner angemessenen Erkenntnis kommen.

Beim Verstehen meines Textes bin ich also immer durch meine Auffassungsgabe begrenzt.

Und wenn ich jetzt einen göttlichen Text lese und versuche, ihn mit meinem menschlich begrenzten Verstand zu verstehen, wird da nicht viel bei rauskommen.

Das Streitbare

Und weil die Schriftgelehrten nur das geschriebene Wort hatte, deswegen war es normal, dass Schriftgelehrter A eine Stelle las und sie so verstand, und Schriftgelehrter B las die gleiche Stelle und verstand sie ganz anders.

Die Schriftgelehrten konnten mit dem Bibeltext nur eines machen: Sie konnten ihn auslegen.

Exegese heißt das Fachwort.

„Interpretation“ ist das, was dabei geschieht.

Damit bekomme ich heraus, was ich in diesem Text erkennen.

Der Andere bekommt auf diesem Wege raus, was er in diesem Text erkennt.

Keiner von beiden bekommt heraus, was der Autor sagen wollte.

Wenn nun Goethe oder Thomas Mann den Text geschrieben haben, den wir auslegen, dann haben wir bei der Interpretation zumindest noch eine Chance, dass wir den Gedanken treffen, den der Autor an dieser Stelle auch gedacht hat.

Denn der Autor war ein Mensch, er dachte wie wir. Er dachte auch in den Grenzen und Beschränkungen, in denen wir denken.

Wenn aber Gott den Text geschrieben hat, dann sind unsere Chancen, durch Exegese herauszubekommen, was Gott mit diesem Text sagen wollte, praktisch null. Der Text ist geschrieben von einem unendlichen Geist mit unendlicher Klugheit, frei von jeder Begrenzung.

Der Text ist geschrieben von einem, der göttlich denken kann.

Der Text ist geschrieben von einem, der alles denken kann. Weil ihm alles möglich ist.

So ein Text ist für einen Menschen auch mit noch soviel Exegese nicht zu verstehen.

Somit trifft die Schriftgelehrten keine Schuld.

Im Gegensatz: Jesus

Jesus benutzt auch nur die Bibel.

Jesus erfindet nicht etwas Neues.

Aber Jesus brauchte den Bibeltext nicht auszulegen. Jesus wusste, was Gott mit dem jeweiligen Vers sagen wollte. Daraus bestand seine Vollmacht.

Die Vollmacht Jesu zeigte sich darin, dass er das Göttliche formulieren konnte, das hinter den rein menschlichen Anforderungen des Gesetzes stand.

Die Pharisäer konnten nur die menschlich verständlichen Forderungen beschreiben, Jesus beschrieb die wahren Forderungen Gottes. Der Geruch solcher Forderungen war in den Formulierungen der Schriften schon vorhanden, aber niemals hätte ein Pharisäer das Recht gehabt, aufgrund dieser Aromen zu raten, was wohl die Forderung Gottes dahinter sei, geschweige denn sie als Forderungen an die Menschen zu verkünden.

Aber die Zuhörer im Volk merkten natürlich, dass Jesus genau diesen Geruch, der hinter den Worten des Gesetzes immer schon herausgekrochen war, dass Jesus diesen Geruch in die richtigen Worte fasste. Die Zuhörer gewannen letztlich den Eindruck, dass hier endlich einer ist, der Gott in seinem eigentlichen Wollen verstanden hat.

Anwendung für heute

Diese Bibelstelle bekommt ihre Bedeutung für heute dadurch, dass die Gemeinde der Leib Christi ist.

Die Gemeinde hätte also heute diese lehrmäßige Vollmacht, die Jesus damals hatte.

(Immer vorausgesetzt, der Kopf des Leibes Christi ist ebenfalls anwesend. Die Gemeinde allein hat nicht viel Wert und keinerlei Vollmacht. Sie ist ja nur Rumpf und Extremitäten.)

Diese Vollmacht bekommt die Gemeinde aber nicht durch Exegese, durch Auslegung und Abwägung der Schrift.

Das wäre nämlich der Weg der Schriftgelehrten.

Die Gemeinde bekommt ihre Vollmacht auch nicht durch Logik, durch intensives Nachdenken oder durch Textforschung.

Denn nachgedacht und geforscht haben die Schriftgelehrten auch.

Der Gegensatz zwischen den Schriftgelehrten und der Gemeinde ist der Unterschied zwischen Auslegung und Offenbarung.

Der Unterschied zwischen Alten und Neuen Bund ist der Unterschied zwischen „vom Rabbi gelehrt“ und „von Gott gelehrt“. (Jes 54,13; Jer 31,34; Jh 6,45)